Russische Rechtsextreme wollten Wladimir Putin stürzen, doch einig sind sie nicht

Die Volksrevolution blieb aus

Nach dem »Russischen Marsch« am Samstag in Moskau sollte tags darauf einem rechtsextremen Masterplan zufolge Wladimir Putin gestürzt werden. So weit kam es nicht.

Das Jahr 2017 unterscheidet sich von 1917 in Russland vor allem dadurch, dass die Revolution dieses Mal angekündigt war, aber nicht stattgefunden hat. Wladimir Lenin war sich wenige Wochen vor dem Sturz des Zaren noch sicher, den langersehnten gesellschaftlichen Umsturz selbst nicht mehr zu erleben. Der Nationalist Wjatscheslaw Malzew hingegen kündigt seit 2013 in jeder Ausgabe seines populären Video­blogs »Artpodgotowka« eine »Volksrevolution« an und nannte sogar ein Datum: den 5. November. An diesem Tag sollte Präsident Wladimir Putin gestürzt werden und das russische Volk endlich sein Schicksal in die eigene Hand nehmen.

Dem kamen allerdings ein Verbot von Malzews gleichnamiger, nirgendwo offiziell registrierter Bewegung, Hausdurchsuchungen und Festnahmen zuvor. Gegen Anhänger Malzews in Moskau und Krasnojarsk laufen seit Oktober Strafverfahren wegen Vorbereitung eines Terroranschlags beziehungsweise von Massenunruhen.

Seit 2013 kündigt der Nationalist Wjatscheslaw Malzew auf seinem Videoblog die »Volksrevolution« an.


Am Tag X demonstrierten indes nur wenige ihre Bereitschaft, nach Plan vorzugehen und auszuharren, bis Putin und seine Entourage das Weite suchen. Ein einfaches Handheben, inszeniert als Referendum, hätte den Auftakt darstellen und eine revolutionäre Kettenreaktion auslösen sollen. Aber die Ordnungskräfte hatten vorsorglich weite Teile der Moskauer Innenstadt abgeriegelt und alle festgenommen, die irgendwie verdächtig aussahen. Allein in der Hauptstadt fanden sich 339 Personen in Polizeigewahrsam wieder, darunter 49 Minderjährige. In St. Petersburg erfolgten 21 Festnahmen. In einigen Fällen sollen Granaten und andere Waffen gefunden worden sein. Anwälte berichteten, dass ihnen der Zutritt zu den Polizeiwachen verwehrt worden sei. Inzwischen laufen umfangreiche Ermittlungen unter Beteiligung des Staatsschutzes. Verdächtig macht sich sogar, wer Malzews Äußerungen als Mitglied einer Community im Messenger-Dienst Telegram liest.

Malzew hatte seine politische Karriere in den neunziger Jahren als Abgeordneter des Gebietsparlaments von Saratow begonnen. Dort baute er anfangs enge Kontakte zu Wjatscheslaw Wolodin auf, dem derzeitigen Vorsitzenden der Staatsduma, und leistete einen Beitrag zur Gründung der Hauspartei des Kreml, »Einiges Russland«. Bald jedoch trennten sich ihre Wege. Malzew inszeniert sich seither als vehementer Kritiker des »faschistischen Regimes«. Mit seinen Videoblogbeiträgen erreicht er bis zu zwei Millionen Zuschauer, was ihm zum zweiten Platz auf der Liste der Oppositionspartei »Parnas« bei den Duma-Wahlen 2016 verhalf. Ein Duma-Mandat errang Malzew nicht, aber immerhin dürfte sich sein Bekanntheitsgrad gesteigert haben. Im Bündnis »Neue Opposition« suchte er schließlich die Nähe zur kremlkritischen extremen Rechten, darunter auch zu Iwan Beletskij, einem der Veranstalter des »Russischen Marschs« in Moskau im vergangenen Jahr.
Bereits im Sommer haben sich Malzew und Beletskij ins Ausland abgesetzt, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Malzew wurde angeblich von Gleichgesinnten in den Ordnungskräften vorgewarnt und hat in Frankreich einen Asylantrag gestellt. Beletskij, einer der Anführer der »Partei der Nationalisten«, gibt seinen Aufenthaltsort nicht bekannt. Jurij Gorskij, eine weitere zentrale Figur der russischen extremen Rechten, versucht von Litauen aus, seinen politischen Einfluss geltend zu machen. De facto befindet sich die gesamte Führungsriege der russischen Rechtsextremen außer Landes oder in Haft. Ständig tauchen neue Nachfolger auf und die Namen der zugehörigen Gruppen ändern sich regelmäßig.
Die kleinen Führer sind sich nicht grün. Gorskij, dessen »Neue rechte Alternative« nach eigener Darstellung für einen »gemäßigten Nationalismus« nach europäischem Vorbild steht und der Putin für dessen aggressives Vorgehen in der Ukraine kritisiert, spricht Malzew ab, ein echter Nationalist zu sein. Beletskij sei durch sein proletenhaftes, eigenmächtiges Auftreten eine Schande für die gesamte russische Bewegung. Gorskijs Rivalen wiederum halten dessen Vertrauensperson, Roman Kowaljow, für einen verlängerten Arm des Staatsschutzes.
Konkurrenz und Misstrauen prägen das Milieu derart, dass der wie jedes Jahr für den 4. November angekündigte »Russische Marsch« nur in eingeschränkter Form stattfinden konnte. Im Unterschied zu anderen Gruppen hatte Beletskij dazu aufgerufen, unmittelbar nach Beendigung des »Russischen Marschs« im Moskauer Stadtteil Ljublino in Richtung Kreml aufzubrechen, um dort die Stellung zu halten für die »Revolution« am Folgetag, dem 5. November. Dort sollten die Beteiligten gemeinsam mit Regimegegnern aus dem Kaukasus die Absetzung Putins vorantreiben.
Die Moskauer Behörden machten sich die Animositäten geschickt zunutze. Monarchisten und andere Organisationen, die nicht der Neonaziszene angehören, durften im Westen der Stadt den »Russischen nationalen Marsch« absolvieren. Die fünf Antragsteller für den »Russischen Marsch« sollten sich trotz ihrer Rivalitäten miteinander absprechen. Bereits in den Tagen vor dem Aufmarsch blockierte die zuständige Aufsichtsbehörde einige Websites und Blogs in sozialen Netzwerken der Veranstalter. Am Morgen kam es zu Hausdurchsuchungen; ­viele blieben zu Hause, weil sie befürchteten, wegen des für den Folgetag ­geplanten Revolutionsspektakels belangt zu werden. Und so fanden sich höchstens 350 Teilnehmende zum »Russischen Marsch« ein.   
Auf der Straße kam es dann zum ­Eklat. Die Polizei verweigerte kurzfristig das Tragen zuvor genehmigter Transparente, woraufhin Kowaljow und der »Schwarze Block« mitteilten, diese Demütigung nicht hinnehmen zu wollen. Sie hätten im Wesentlichen soziale Inhalte publik machen wollen. Ein Sprecher des »Schwarzen Blocks« gab an, neben dem Motto »Gegen Marxismus und Kapitalismus« sei unter anderen auch der Slogan »Nationalsozialismus ist nicht deutsche Vergangenheit, sondern russische Zukunft« vorgesehen gewesen. Während die Polizei zur Festnahme Dutzender Neonazis überging, marschierten 200 Anhänger von Beletskijs »Partei der Nationalisten« und einiger kleiner Gruppen die Demonstrationsroute entlang zur geplanten Kundgebung. Am Rande fanden sich enttäuschte Jugendliche, die für das devote Verhalten bekannter russischer Nationalisten, aber auch für Malzews Strategie der Ankündigung eines Umsturzes nur Verachtung übrig hatten. »Sollen sie doch alle verrecken«, lautete ihr Credo.
Durch systematische Kriminalisierung haben die Strafverfolgungsbehörden in den vergangenen Jahren die extreme Rechte immer weiter in die Enge getrieben. Begründete Anlässe für Ermittlungen finden sich zwar zu Genüge. Aber die Polizei macht es sich auch einfach, indem sie Strafmaßnahmen für die Weiterveröffentlichung zweifelhafter Inhalte in sozialen Netzwerken verhängt, häufig unabhängig davon, welche Reichweite und Relevanz diese besitzen. Strafermittlungen wegen Extremismus wurden in der Vergangenheit beispielsweise eingeleitet, weil Toningenieure aus dem Internet versehentlich nicht die offizielle Version der russischen Hymne herunter­geladen hatten. Die gängige restriktive Auslegung geltender Gesetze zielt somit längst nicht nur auf Anhänger rechten Gedankenguts.
Dass die nur noch eingeschränkt ­öffentlich auftreten können, heißt jedoch noch lange nicht, dass Gewalttaten der Vergangenheit angehören. Die letzten Pogrome gegen Migranten im Oktober 2013 im Moskauer Stadtteil Birjuljowo wurden medial noch groß aufbereitet. Seither hält sich die Polizei bei der Offenlegung der Hintergründe von mutmaßlich rassistischen Straftaten zurück. Hatten zuvor selbst kleine Lokalblätter über solche Fälle berichtet, verschwand das Thema nun plötzlich aus der Presse. Dass ein relevanter Teil der Neonaziszene seine Aktivitäten zeitweilig in den ukrainischen Donbass verlegt hatte, mag einen Rückgang rassistischer Gewalttaten erklären. Trotzdem finden nach wie vor Angriffe statt, doch Informationen über Täter und Opfer finden sich nur noch spärlich.
Vor einem Jahr stand in St. Petersburg eine Gruppe Neonazis vor Gericht, die in gewisser Weise repräsentativ für den derzeitigen Typus russischer gewalttätiger Rechtsextremer ist. Von 19 Angeklagten waren zum Tatzeitpunkt nur fünf volljährig. Zwei junge Frauen waren sogar noch keine 16 Jahre alt. Neben einem Mord und sechs Fällen schwerer Körperverletzung lauteten die Tatvorwürfe gegen sie auf Raub, Brandstiftung an Kirchen und andere Vergehen. Trotz ihrer ­eindeutig rechtsextremen Ideologie ließen sie sich organisatorisch keiner der bekannten Neonazistrukturen ­zuordnen. Sie gingen autonom vor.
Mehr Aufmerksamkeit erhielt eine Gruppe Moskauer »Sauberkeitsfana­tiker«, wie sie die Ermittler tauften. Im Oktober verurteilte ein Gericht vier Männer und eine Frau zwischen 19 und 25 Jahren zu Haftstrafen zwischen neuneinhalb Jahren und lebenslänglich. Sie hatten mindestens 15 Menschen ermordet, hauptsächlich Obdachlose und schwer alkoholisierte Personen auf der Straße. Bis zu 171 Stichwunden versetzten sie ihren Opfern. Ihr hasserfülltes Vorgehen fand Nachahmer, vor allem unter Teenagern, die obdachlose Menschen ermordeten.