Bürgerforum als Brandmauer
Johanna und Frank leben mit ihren Kindern in einem Reihenhaus und machen sich Sorgen um Deutschlands Zukunft. Das Ehepaar ist nicht einverstanden mit der Eurorettung, der Einwanderungs- und der Familienpolitik. Von den existierenden Parteien halten Johanna und Frank nicht viel. Die beiden würden sich zwar gerne einbringen und etwas ändern, wollen aber dafür nicht unbedingt Mitglieder einer Partei werden. Für das Paar gibt es ein neues Angebot: das »Bürgerforum Blaue Wende«. So jedenfalls erzählt es ein zweiminütiger Imagefilm, der gestalterisch an ein Unterrichtsvideo für Grundschüler erinnert.
Mit diesem Film eröffneten die ehemaligen AfD-Funktionäre Frauke Petry und Marcus Pretzell am Samstag in einem Konferenzhotel in der Nähe von Frankfurt am Main die erste Publikumsveranstaltung ihrer neuen Organisation. Die Gründung eines solchen »Bürgerforums« hatte Petry bereits kurz nach ihrem Austritt aus der AfD im September in Aussicht gestellt. Die »Blaue Wende« präsentiert sich als Alternative zu den etablierten Parteien, aber auch zur AfD. Etwa 50 Besucher waren gekommen. Pretzell sagte, man habe die Veranstaltung ganz bewusst in einem »überschaubaren Kreis« gehalten.
Es war Frauke Petry, die einen Schusswaffeneinsatz gegen Flüchtlinge an der Grenze befürwortete und die den Begriff »völkisch« wieder positiv besetzen wollte.
Die Rede des früheren AfD-Landesvorsitzenden von Nordrhein-Westfalen war eine Generalabrechnung mit dem Parteiensystem. Er habe unterschätzt, »wie schnell Parteistrukturen korrumpieren«. Für eine Parteikarriere sei es schädlich, eine klare Position zu beziehen, deshalb kämen nur die Opportunisten weiter. Er selbst verdankt seine Mandate im Europaparlament und im nordrhein-westfälischen Landtag einer Partei – der AfD. Künftig sollten, so Pretzell, die regelmäßigen Treffen der »Blauen Wende« im Vordergrund stehen und dahinter die schlanken Parteistrukturen der »Blauen Partei«.
Petry stellte anschließend die programmatischen Kernpunkte der »Blauen« vor: Die kulturell-religiöse Basis Deutschlands müsse verteidigt, der Mindestlohn solle abgeschafft werden, stattdessen solle es ein »aktivierendes Grundeinkommen« geben. Außenpolitisch solle eine Balance zwischen Ost und West hergestellt werden; es werde eine strategische Partnerschaft mit Israel angestrebt, »weil dieses kleine Land uns, gerade beim Thema innere und äußere Sicherheit, im Umgang mit illegaler Migration so meilenweit voraus ist«. Mit Blick auf die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung sprach die ehemalige AfD-Bundesvorsitzende von einer »herbeigeschwindelten Obergrenze«.
Als Gastreferentin hatten die »Blauen« die Buchautorin Katja Schneidt (»Wir schaffen es nicht«) eingeladen. Diese ist Mitglied der SPD im hessischen Büdingen. Weil sie mal mit einem Muslim liiert gewesen sei und sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagiere, präsentierte sie sich als Expertin. Der Islam sei keine Religion, sagte Schneidt, sondern ein »Lebenskonzept, das die Leute, die hierher kommen, schon mit der Muttermilch aufnehmen«. Auch bei den Fragen aus dem Publikum spielten die Themen Islam, Einwanderung und »Parallelgesellschaften« eine große Rolle. Vereinzelte Meldungen zur Energie- oder Gesundheitspolitik traten in den Hintergrund.
Nächstes Jahr sollen in Hessen und Bayern neue Landtage gewählt werden, 2019 auch in Sachsen. Im selben Jahr soll außerdem die Europawahl stattfinden. Die sei für die junge Partei vor allem deshalb interessant, weil es dort keine Sperrklausel gebe, sagte Petry. Und die Landtagswahlen? »Ob man zur bayerischen Landtagswahl antritt«, setzte Pretzell an und blickte unsicher zu Petry. Die winkte ab und schüttelte den Kopf. »Das hängt von vielen Faktoren ab«, sagte Pretzell schließlich, »da möchte ich mich jetzt noch nicht festlegen.«
Unter den Besuchern befand sich auch Henning Rehse, stellvertretender Vorsitzender der Freien Wähler in Nordrhein-Westfalen. Die »Blaue Wende« und die Freien Wähler besäßen eine programmatische Übereinstimmung von 75 Prozent, sagte er vor Pressevertretern. Die meisten Menschen waren an diesem Tag freilich wegen Petry gekommen. Ihre Popularität und ihren Status als Bundestagsabgeordnete will die Dresdnerin nutzen, um der »Blauen Wende« die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen. Der Personenkult um die Politikerin trägt zuweilen absurde Züge: Einige Besucher ließen sich am Rande der Veranstaltung mit dem Baby fotografieren, das Petry vor einem halben Jahr zur Welt gebracht hatte.
Bis zum Ende der Veranstaltung blieb allerdings unklar, wie genau das Verhältnis von Partei und »Bürgerforum« aussehen soll. Pretzell nannte die Partei ein »notwendiges Übel« und bezeichnete das »Bürgerforum« als »Firewall«, die sogenannte Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker und Holocaust-Leugner von der Partei fern halten solle. Petry sprach mit Blick auf die »Blaue Wende« von einem »Ideen- und Personenpool«. Erst wenn ein gewisses Vertrauen aufgebaut worden sei, könnten Interessierte aus der »Blauen Wende« auch in die »Blaue Partei« aufgenommen werden. So erkläre sich auch, dass die Partei derzeit nur ungefähr 100 Mitglieder habe. Man prüfe jeden Antrag sehr genau und lasse nicht jeden rein, sagte der Vorsitzende Michael Muster.
Das Konzept des »Bürgerforums« wollen Petry und Pretzell als niedrigschwellige und besonders demokratische Möglichkeit zur Partizipation verstanden wissen. Die Gepflogenheiten der innerparteilichen Demokratie, also auch Konflikte und Flügelkämpfe, die man aus der AfD nur zu gut kennt, könnten auf diese Weise an das »Bürgerforum« ausgelagert werden. Dort darf zwar gestritten werden, aber in ihrer Machtposition sind die Parteifunktionäre dadurch nicht bedroht. Ein Vorbild ist wohl die niederländische »Partij voor de Vrijheid« (PVV). Der Rechtspopulist Geert Wilders ist deren einziges Mitglied. Er alleine entscheidet über das Programm und die Kandidaten. Letztlich werden auch in der »Blauen Partei« die zentralen Entscheidungen von einem kleinen Kreis gefällt, mit dem sich Petry und Pretzell umgeben.
In gewisser Hinsicht sei das »Bürgerforum« auch eine Konsequenz aus der Erfahrung mit der AfD, so Petry und Pretzell. Sie führten die Radikalisierung der Partei vor allem auf ihre Unbedarftheit und die mangelnde Erfahrung in der Politik zurück. Wenn man ihnen so zuhörte, war man fast geneigt, das zu glauben. Aber das hieße zu vergessen, dass es Petry selbst gewesen war, die einen Schusswaffeneinsatz gegen Flüchtlinge an der Grenze befürwortet hatte und den Begriff »völkisch« wieder positiv besetzen wollte; und dass es Pretzell war, der erst Anfang des Jahres in Koblenz einen Kongress der zum Teil rechtsextremen ENF-Fraktion im Europaparlament organisiert hatte. Auf Worte der Selbstkritik oder eine glaubhafte Distanzierung wartete man am Samstag indes vergeblich.