Die brasilianische Ex-Präsidentin Dilma Rousseff machte Wahlkampf in Berlin

Rousseff in Berlin

Der Besuch der ehemaligen brasilianischen Präsidentin demonstrierte, wie sehr die Politik in dem südamerikanischen Land auf den Hund gekommen ist.
Raucherecke Von

REDer Welt Brasilien erklären. Das geschieht seit Monaten fast ausschließlich über Begriffe wie »kalten Putsch« (Tagesspiegel), »parlamentarischen Putsch« (N-TV), »weichen Putsch« (Granma), »fälschlicherweise ›weich‹ genannnten Putsch« (Amerika21) oder – unverbindlicher formuliert – »das umstrittene Amtsenthebungsverfahren« einer »umstrittenen Präsidentin« (Spiegel). Wer wollte, konnte sich vergangene Woche in Berlin dieses einschneidende politische Ereignis vom August 2016 aus der Perspektive der unmittelbar Betroffenen anhören – Dilma Rousseff.

Eingeladen hatten die Freie Universität und die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Der akademisch formulierte Titel der Veranstaltung »Von der Verrechtlichung der Politik zur Politisierung der Justiz?« und die zum Gespräch geladene frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) ließen eine qualifizierte Analyse des politischen Machtverlusts der von 2003 bis 2016 regierenden Arbeiterpartei (PT) erwarten. Nach anderthalb Stunden hatten die 400 Anwesenden – zum großen Teil Brasilianer und Brasilianerinnen – jedoch vor allem eines gehört: dass das brasilianische Rechtswesen bei der Strafverfolgung »in eine bestimmte politische Richtung schaut«, um die »gierigen Machteliten zu schützen« (Däubler-Gmelin) und um das Land endlich wieder auf »neoliberalen Kurs zu bringen« (Rousseff). Dafür habe die Rechte »im Parlament Mehrheiten zusammengekauft« und organisiere nun eine juristische Hexenjagd gegen eine erneute Kandidatur des ehemaligen Präsidenten Inácio Lula da Silva (PT) im kommenden Jahr. Und nur diese Kandidatur könne eine »Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaat« bringen.

Besser hätte auch ein geübter campaigner seine theory of change nicht stricken können. Ein empörendes Problem schildern, klare Feinde benennen, Empathie mit einem unterstützenswerten Opfer aufbauen und einen klaren Handlungsaufruf formulieren. Kurzum: Wählt PT! Das Publikum akklamierte eifrig und erfüllte die Rolle, die es sich in sozialen Netzwerken vorher selbst zugeschrieben hatte: »Wir müssen die Ränge mit Schildern, Transparenten, T-Shirts usw. füllen, Solidarität mit unserer legitimen Präsidentin zeigen.«

Ziel erreicht. Und doch sind Zweifel erlaubt, ob die Verteidigung des Rechtsstaats und der Arbeitsrechte sowie die gerechte Verteilung gesellschaftlichen Reichtums nicht auch anders hätten diskutiert werden können als im Wahlkampfmodus. Zumindest ein paar diplomatisch nett verpackte Nachfragen im Podiumsgespräch hätten doch drin sein sollen – nach den Grenzen des extraktivistischen Wachstumsmodells des PT, seinen Allianzen mit der Agroindustrie und den evangelikalen Neopfingstlern, dem gescheiterten Versuch, sich unter Ausschluss der sozialen Bewegungen eine kauffreudige neue Mittelklasse als Wählerbasis aufzubauen oder auch danach, wie kontraproduktiv die scheinbar alternativlose Anrufung Lulas als weltlichem Messias für eine linke Erneuerung ist.

Die wenigen kritischen Nachfragen aus dem Publikum bügelte Rousseff mit ebenso dünnen wie langen makroökonomischen Exkursen ab. Und mit einer Anekdote: Derzeit werde gegen sie ermittelt, ob es rechtens gewesen sei, dass sie 2016 ihren kranken, 13jährigen Labrador habe einschläfern lassen. Die groteske Story funktioniert ungewollt auch als Metapher. Die brasilianische Politik ist endgültig auf den Hund gekommen.