Der Film »120 BPM« erzählt vom Aktivismus gegen Aids in Frankreich

Mit dem Virus kam die Wut

In seinem Film »120 BPM«, der in Cannes mit dem Grand Prix ausgezeichnet wurde, zeichnet Robin Campillo ein mitreißendes Porträt der HIV-Aktivistengruppe Act Up Paris

Hinter dem Vorhang, der das dunkle Off einer Bühne vom grellen Rampenlicht trennt, warten die Mitglieder der Gruppe Act Up Paris zu Beginn von Robin Campillos Film »120 BPM« auf den richtigen Zeitpunkt, um die Veranstaltung eines Pharmakonzerns zu sprengen. Wenige Augenblicke später sieht man sie hinausstürmen und das Podium einnehmen. Pla­kate werden hochgehalten, ein Sprech­chor übertönt jede Gegenstimme im Raum. Eine Aktivistin kapert das Mikrophon, versucht den Redner mit ruppigen Sätzen bloßzustellen. Doch dieser bleibt hartnäckig und verteidigt seinen Standpunkt, bis ihn ein mit Kunstblut gefüllter Luftballon ins Gesicht trifft. Von einer Sekunde auf die andere läuft die Aktion aus dem Ruder.

In einer emotionsgeladenen Nachbesprechung diskutieren die Mit­glieder der Gruppe darüber, wie weit man bei solchen Interventionen gehen dürfe. Wöchentlich treffen sie sich in einem Hörsaal. Neuen Mitgliedern werden hier die Spielregeln von Act Up erklärt, dann folgt direkt die Debatte und Analyse der zuvor ausgeführten Aktion. Immer wieder fliegt die blutige Wasserbombe in der Erinnerung der Anwesenden noch einmal gegen den Kopf des Redners, springt der Film von einer Position zur nächsten, wiederholt die Ereignisse, lässt den Darstellungen der einzelnen Mitglieder Raum. Anschließend wird die nächste Aktion vorbereitet. Der beständige Wechsel der Perspektive, die fiebrige Atmosphäre innerhalb der Gruppe, die von Wut und Lust an der Konfrontation geprägt ist und vor Lebensenergie sprüht, überträgt sich dabei von Beginn an auf den Zuschauer.

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Unbeschwert ist nur der Anfang der Beziehung: Sean (Nahuel Pérez Biscayart) ist bald auf die Fürsorge Nathans (Arnaud Valois) angewiesen

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Wie nebenbei flicht der in Marokko geborene Regisseur Robin Campillo (»Eastern Boys«, F 2015) in den vitalen Fluss der Erzählung um die Gruppenaktivitäten von Act Up Paris die Geschichte von Nathan (Arnaud ­Valois) und Sean (Nahuel Pérez Biscayart) ein. Bei einer der zahlreichen Sitzungen der Gruppe lernen sich die beiden Studenten kennen. Gemeinsam mit dem Anführer der Gruppe, Thibault (Antoine Reinartz), und der anarchischen Sophie (Adèle Haenel) kapern sie Unterrichtsstunden in Schulen, verteilen Kondome und klären die Schüler auf, die nicht selten mit Ablehnung reagieren. ­Beeindruckt von Seans Durchsetzungskraft verliebt sich der HIV-negative Nathan in den drahtigen jungen Mann, der HIV-positiv ist. Bald verschlechtert sich Seans Zustand deutlich. Er zieht bei Nathan ein, der sich hingebungsvoll um seinen Freund kümmert und doch immer weniger für ihn tun kann. Die Ak­tionen und Auseinandersetzungen der Gruppe treten in dieser zweiten Hälfte des Filmes mehr und mehr in den Hintergrund und machen dem Persönlichen Platz.

Die Wurzeln der 1989 gegründeten Gruppe Act Up Paris liegen in den USA zur Zeit der Hochphase der Aids-Krise, als die Infektion einem Todesurteil gleichkam. Zu Beginn der achtziger Jahre hatten homosexuelle Männer die Gruppe »Gay Men’s Health Crisis« (GMHC) gegründet. Frustriert von der Ignoranz der Politik und weiter Teile der Gesellschaft gegenüber der Krankheit rief der New Yorker Schriftsteller und Schwulenaktivist Larry Kramer am 10. März 1987 Freunde bei einem Treffen der Gruppe zum Widerstand gegen die Herabwürdigungen auf. Mit einer Vielzahl an Unterstützern gründeten sie Act Up, die »Aids Coalition to ­Unleash Power«, mit dem Ziel, Druck auf die Politik und die Pharmaindustrie auszuüben. Weltweit gründeten sich anschließend Gruppen nach diesem Vorbild. Mit spektakulären medienwirksamen Aktionen protestierten sie gegen die Diskriminierung von HIV-Positiven, die hohen Preise für Aids-Medikamente und die schleppende Erforschung und Zulassung wirksamer Präparate.

Regisseur Campillo hat sich in den neunziger Jahren selbst bei Act Up Paris engagiert, als die gesellschaftliche Mehrheit noch immer über das HI-Virus schwieg und die Regierung unter Francois Mitterrand das Ausmaß der Aids-Krise herunterspielte. Damals dominierte die Vorstellung, dass nur Schwule und Drogensüchtige von dem Virus betroffen und selbst schuld an der Krankheit seien.

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Der umgedrehte Rosa Winkel dient Act Up als Symbol für Unterdrückung und für Solidarität und Widerstand

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Mit »120 BPM« (Originaltitel: »120 battements par minute«) gelingt Campillo ein mitreißendes Porträt der Bewegung. Dabei verklärt er weder die Gruppe und ihre Protagonisten noch arbeitet er sich an ihren Gegnern ab. Eindrucksvoll unterstützt die Kamera das Anliegen von Act Up, für die Betroffenen Öffentlichkeit herzustellen. Dabei nutzt der großartig montierte Film das zentrale Motto von Act Up »Schweigen = Tod«, um in der Verbindung mit den persönlichen Schicksalen gegen den körperlichen Verfall der Opfer des Virus zu rebellieren. So wirft Campillo auch die Frage auf, ob der eigene Körper politisiert werden kann und darf, etwa wenn die Gruppe diskutiert, ob die Kranken in Rollstühlen auf einer Parade in der vordersten Reihe fahren sollen, oder wenn Sean sich in einem emotionalen Ausbruch gegen die Instrumentalisierung seiner fortscheitenden Krankheit wehrt.
Eine der schönsten Szenen zeigt die Aktivisten im Club. Im Rausch des Tanzes verliert sich die Kamera in Aufnahmen des durch die Luft wirbelnden Staubs. Schleichend und unsichtbar greift der Tod ins Leben der Protagonisten ein. Selbst in den ausge­lassensten Momenten erinnert der Film sein Publikum daran, was für die Betroffenen auf dem Spiel steht.

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Gezielt werden neue Mitglieder angeworben und mit der Arbeit der Gruppe vertraut gemacht

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In der Penetranz des Repetitiven entfaltet sich die Kraft der Mobilisierung des Einzelnen, die in ihrer epischen Länge von 143 Minuten nur an wenigen Stellen nachlässt. Selten amalgamierten individuelle Schicksale, Erotik und politischer Diskurs im Kino auf so mühelose Weise. Die letzte Szene des Films veranschaulicht das auf das Allerschönste, wenn Party, Aktivismus und Sexualität im Rausch der »120 BPM«-Musik noch einmal miteinander verschmelzen. Mit aller Kraft stemmen sich die letzten Momente dieses kraftvollen Films gegen den Tod, gegen das Vergessen und übertragen den ihm eigenen Herzschlag einer Wiederbelebungsmaßnahme auf die Zuschauer.

 

120 BPM (Frankreich 2017). Regie: Robin Campillo, Darsteller: Arnaud Valois, Nahuel Pérez Biscayart, Antoine Reinartz, Adèle Haenel. Filmstart: 30. November 2017