In Russland wird einem Schüler Entschuldigung von Wehrmachtsverbrechen vorgeworfen

Mitgefühl und Drohungen

Im deutschen Bundestag hielt ein russischer Schüler zum Volkstrauertag eine kurze Rede. Deren Inhalt sorgte in Russland für Empörung; ihm werden mangelnder Patriotismus und die Verharmlosung der Verbrechen der Wehrmacht vorgeworfen.

Gedenkfeierlichkeiten für Kriegstote sind in der Regel eine friedliche Angelegenheit. Dennoch können sie für reichlich Zwist sorgen und trotz guter Absicht die Völkerfreundschaft auf eine harte Probe stellen. So geschehen nach der Gedenkstunde im Bundestag zum Volkstrauertag am 19. November, die der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten jährlich abhält. Sprechen durfte dort auch Nikolaj Desjatnitschenko, ein 16 Jahre alter Gymnasialschüler aus dem sibirischen Nowyj Urengoj. In seiner kurzen Rede brachte er Mitgefühl für gefallene Wehrmachtssoldaten zum Ausdruck, von denen viele ein friedliches Miteinander gewollt hätten. Ein Antikriegsplädoyer hätte es werden sollen, aber in Russland erntete der Schüler übelste Beschimpfungen und Hasskommentare, weil er der verbrecherischen Wehrmacht Unschuld bescheinigt habe.

Zur Vorbereitung seiner Reise nach Deutschland setzte sich Desjatnitschenko mit der Biographie von Georg Johann Rau auseinander, der in Stalingrad gekämpft hatte und im nahegelegenen sowjetischen Kriegsgefangenenlager Beketowka ums Leben kam. Lange Zeit galt der Soldat als vermisst, bis der Volksbund den Toten identifizierte. Von einem ausführlichen, im Sommer gemeinsam mit seiner Mutter Oksana Desjatnitschenko verfassten Vortrag zum vorgegebenen Thema »Frieden« blieb nach Kürzungen des Schülers auf Bitte der Veranstalter ein kurzes Statement über deutsche Soldaten. Dem kremlnahen Sender Russia Today (RT) sagte Oksana Desjatnitschenko, es sei für sie selbst schrecklich zu lesen, was dabei herausgekommen sei. Gleichzeitig versicherte sie, ihr Sohn wüsste bestens Bescheid, wer aus diesem Krieg als Sieger hervorgegangen sei.

Damit versuchte sie wohl, ihren Sohn gegen die Angriffe zu verteidigen, denen er in Russland ausgesetzt ist. Im Internet hagelte es Beschimpfungen wie »Missgeburt« und »rotznäsiger Drecksack«, die Familie berichtete auch von Drohungen. Als erster traute sich der Bürgermeister von Nowyj Urengoj, Iwan Kostogris, den Schüler in Schutz zu nehmen. Er geriet prompt selbst ins Visier wütender Russinnen und Russen. Für die Verherrlichung des Nationalsozialismus und die Relativierung seiner Verbrechen sieht das russische Strafrecht immerhin bis zu drei Jahre Haft vor.

Jelena Kukuschkina, eine Abgeordnete des Gebietsparlaments des Autonomen Bezirks der Jamal-Nenzen, zu dem die Stadt gehört, schaltete die Staatsanwaltschaft ein. Der Blogger Sergej Koljasnikow reichte eine Beschwerde beim Inlandsgeheimdienst FSB ein, der zuallererst eine Anfrage an die ukrainischen Behörden richtete, um etwaige Angehörige von Desjatnitschenko und Kostogris ausfindig zu machen. Zwar sind verwandtschaftliche Verhältnisse zwischen russischen und ukrainischen Staatsbürgern nicht strafbar, sie stützen aus behördlicher Sicht aber offenbar den Vorwurf einer historischen Fehlinterpretation. Pikanterweise war Koljasnikow vor zehn Jahren selbst wegen NS-Propaganda mit einer Geldstrafe belegt worden, weil er unter seinem Label »Der alte Soldat« mit verbotenen NS-Devotionalien gehandelt hatte.
Erst nachdem die russische Regierung Unverständnis über die überzogenen Reaktionen geäußert hatte, verlegte sich die Suche nach den Schuldigen auf die schulische Vermittlung historischer Begebenheiten. Die Kinderschutzbeauftragte Anna Kusnezowa will »hinter die Kulissen des Theaters« schauen. »Wer hier kein Patriot ist, wird sich herausstellen, wenn wir klären, wo das alles herkommt.«

Kürzlich beschäftigte sich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof mit der Klage eines Schlossers aus Perm, dem ersten Verurteilten in Russland nach einem zum Tag des Sieges 2014 eingeführten, auch im jüngsten Fall möglicherweise relevanten Strafparagraphen. Dieser verbietet die Leugnung von Tatsachen, die in den Urteilen des Nürnberger Tribunals festgestellt wurden, das Gutheißen von in diesen Urteilen genannten Verbrechen und die vorsätzliche öffentliche Verbreitung falscher Angaben über das Vorgehen der UdSSR im Zweiten Weltkrieg. Der Schlosser hatte lediglich im Internet einen Artikel geteilt, in dem von einem gemeinsamen Überfall Deutschlands und der Sowjetunion auf Polen am 1. September 1939 die Rede war.