Die Substitution des Kokaanbaus in Kolumbien geht nicht wie erhofft vonstatten

Entzugserscheinungen im Kokagebiet

In der Pazifikregion Kolumbiens kämpfen abtrünnige Farc-Kämpfer und andere Gruppen um die Kontrolle des Kokaanbaus und des Kokainhandels. Das vor einem Jahr im Friedensvertrag vereinbarte Substitutionsprogramm läuft nur schleppend. Von David Graaff

Noch immer weiß niemand genau, was am Abend des 28. November in dem Weiler Pueblo Nuevo der Gemeinde Magüi Payán im äußersten Südwesten Kolumbiens geschah. Sicher ist nur, dass es nach einer Schießerei in dem abgelegenen Ort, der nur nach mehrstündiger Bootsfahrt zu erreichen ist, 13 Tote gab, darunter eine schwangere Frau. Anwohner berichteten dem deutschen Nachrichtenportal Amerika 21 von einer weitaus höheren Anzahl an Opfern. Auch wer für das Massaker verantwortlich ist, steht noch nicht fest. Die Behörden sprechen von einem Schusswechsel zwischen Guerilleros des Ejército de Liberación Nacional (ELN, Nationale Befreiungsarmee) und Dissidenten der ehemaligen Guerilla Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (Farc, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens).

Wie in Pueblo Nuevo ist die Lage in der gesamten Pazifikregion Kolumbiens unübersichtlich, als gesichert gilt nur, dass die Zahl von Gewalttaten ­gestiegen ist. Amnesty International verwies in einem Bericht über das ­erste Jahr nach dem Abschluss des Friedensvertrags zwischen Regierung und Farc darauf, dass sich die Sicherheitslage eher verschlimmert als verbessert habe. Allein in der 200 000 ­Einwohner zählenden Hafenstadt Tumaco gab es im Lauf des Jahres bislang mehr als 400 Todesfälle durch Waffengewalt.

Mit der Demobilisierung der Farc und dem Beginn der Umsetzung des Friedensvertrags von Havanna scheint besonders im Südwesten ein bewaffneter Konflikt dramatisch an Schärfe zu gewinnen. Im dortigen Departamento Nariño ist die Dichte von Kokasträuchern dem aktuellen Bericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zufolge höher als überall sonst im Land. Auf 426 Quadratkilometern, einer Fläche größer als die der Stadt Köln, wachsen hier die goldgrünen Sträucher, aus deren Blättern in Laboratorien ­Kokain gewonnen wird, das über die Pazifik-Route vor allem nach Nord­amerika gelangt, wo die Zahl der Konsumenten steigt.

Nachdem die Farc nicht nur ihre Waffen abgelegt, sondern auch die Kontrolle über den Anbau und die Weiterverarbeitung des Kokas aufgegeben ­haben, streiten sich kriminelle Banden der ELN und mehrere abtrünnige Farc-Gruppen erbittert um die territoriale Kontrolle und die wirtschaftlichen Erträge. Hinzu kommt, dass auch hochrangige Polizisten und Militär­angehörige am Drogenhandel kräftig mitverdienen und Interesse daran haben, dass das Geschäft weiter gut läuft. Zuletzt häuften sich die Verurteilungen wegen Drogenhandels.

 

Der narkotisierte Krieg

»Der Krieg in dieser Region ist enorm ›narkotisiert‹«, sagt Sergio Guarín von der Stiftung Ideas para la paz (FIP), einem unternehmerfinanzierten Think Tank, im Gespräch mit der Jungle World. »Wir sprechen hier nicht mehr von ­einem herkömlichen irregulären Krieg, sondern einem hybriden, in dem sich die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen der Be­teiligten nur schwer auseinanderhalten lassen.«

Die Spannungen in der Region haben sich noch einmal verschärft, seit die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos Anfang des Jahres mit der Umsetzung des in Havanna vereinbarten Substitutionsprogramms (PNIS) be­gonnen hat. Es ist in Umfang und Finanzierung eines der ambitioniertesten Programme zur Eindämmung des als Katalysator des bewaffneten Konflikts angesehenen Kokainhandels. Es folge dem Prinzip von »Zuckerbrot und ­Peitsche«, so der Präsident. Orientiert an den Erfahrungen in Südostasien sollen finanzielle Anreize für den Ausstieg der Kleinbauern geschaffen und – das ist neu – gemeinsam mit ihnen und den örtlichen Behörden ­dauerhafte Ausweichmöglichkeiten entwickelt werden. Große, sogenannte ­industrielle Kokaplantagen jedoch werden von Einheiten der Polizei und des Militärs konsequent zerstört.

Das Programm hat in den Kokaanbauregionen Kolumbiens enorme Hoffnungen geweckt. In den ersten Monaten des Jahres gab es einen wahren Ansturm auf das Substitutionsprogramm. Hunderte Gemeinden mit etwa 125 000 Familien unterzeichneten im Jahresverlauf eine Vereinbarung. In den Jahren zuvor hatten die Aussicht auf ­finanzielle Entschädigung, die Abkehr von der Kriminalisierungspolitik und die Aussetzung der umstrittenen Besprühungen der Pflanzungen aus der Luft mit Glyphosat die Kokaanbaufläche in Kolumbien wieder größer werden lassen und 2016 auf einen neuen Höchststand von 146 000 Hektar getrieben. Die Abwertung des kolumbianischen Peso gegenüber dem US-Dollar trug dank steigender Renditen ebenfalls zum Flächenwachstum bei.

Ziel der Regierung war es, diese Fläche 2017 um 100 000 Hektar zu verringern – die eine Hälfte durch das Ausreißen der Pflanzen, die andere durch freiwillige Substitution. Doch bisherige Zahlen deuten darauf hin, dass zumindest die zweite Herangehensweise nicht funktioniert. Das Programm läuft nur schleppend an, es fehlt in den Regionen am institutionellen Gefüge und bislang ist nur wenig von den versprochenen Zahlungen geflossen. Ohnehin ist nach wie vor unklar, woher die Initiative die benötigten umgerechnet 2,3 Milliarden Euro bekommen soll. Erfolgsdruck kommt vom Geldgeber USA, der seit fast zwei Jahrzehnten den »Krieg gegen die Drogen« finanziert und auch in den kommenden zwei Jahren 143 Millionen US-Dollar dafür zur Verfügung stellen will.

Nachdem US-Präsident Donald Trump angesichts des steigenden Kokain­konsums in seinem Land zuletzt ein effizienteres Vorgehen Kolumbiens gegen den Kokaanbau gefordert hat, muss die kolumbianische Regierung nun schnelle Erfolge vorweisen und setzt vermehrt auf die Vernichtung der Pflanzen, was langfristig nachweislich wenig wirksam ist. Dieser Maßnahme wiederum stellen sich die in ihrer ­Existenz bedrohten Kokabauern mit Blockaden und Protesten entgegen, was zu Zusammenstößen führt. In ­Tumaco eröffneten im Oktober mut­maßlich Polizisten das Feuer auf ­demonstrierende Bauern und töteten dabei nach unterschiedlichen Angaben bis zu 14 Personen. Die genauen Umstände sind noch immer nicht geklärt.

»Das Problem ist, dass es keine Koordination zwischen dem Zuckerbrot und der Peitsche gibt«, sagt Sara Guarín vom Verband der Koka-, Mohn- und Marihuanabauern (COCCAM) der Jungle World mit Verweis auf die Ver­antwortlichkeiten unterschiedlicher Regierungsstellen. Die Organisation ging Anfang des Jahres aus den Farc nahestehenden Bauernverbänden ­hervor und vertritt nach eigenen Angaben mehr als 20 000 Kokabauern. ­Außerdem sei unklar, so Guarín weiter, ab wie viel Hektar ein Kokafeld als ­»industriell« gelte. »So wie das Programm derzeit läuft, ist es zum Scheitern verurteilt und die Bauern werden zum Kokaanbau zurückkehren«, sagt sie. Eine Einschätzung, die viele Experten teilen.