Chronobiologie: der Zusammenhang von Zeit, menschlicher Natur und dem Kapitalismus

Zeit für Verwertung

Die Forschung dreier Chronobiologen, die am 10. Dezember mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, verweist auf den Gegensatz der abstrakten Zeit des Kapitalismus zur menschlichen Natur.

Es sei »ein großer Tag für die Fruchtfliege«, sagte Michael Rosbash, einer der Preisträger, denen am 10. Dezember in Stockholm der Nobelpreis für Phy­siologie und Medizin verliehen wurde, als ihn die Kunde von der Auszeichnung erreichte. Denn die grundlegenden Erkenntnisse über die sogenannte innere Uhr gewannen die drei ausgezeichneten Chronobiologen Rosbash, Michael W. Young und Jeffrey C. Hall an der Fruchtfliege Drosophila mela­nogaster.

Chronobiologie heißt die Disziplin, die sich mit der Erforschung der zeitlichen Organisation biologischer Prozesse beschäftigt. Besonderes Augenmerk gilt den Lebensrhythmen von Pflanzen und Tieren. Bei Prozessen etwa, die einem Tag-Nacht-Rhythmus unterliegen, spricht man von circadianen Prozessen. Einem solchen Rhythmus ­unterliegen den Erkenntnissen der Chronobiologie zufolge auch viele menschliche Funktionen, vom Stoffwechsel über die sinnliche Wahr­nehmung bis hin zum Verhalten. Gesteuert werden diese zeitlichen Ab­läufe durch Proteine und Hormone. Ein eher triviales Beispiel für die innere Uhr dürfte die Tatsache sein, dass Menschen abends müde werden.

Rosbash, Young und Hall haben zur Chronobiologie mit ihrer Forschung an der Fruchtfliege entscheidend beigetragen. Bereits 1984 konnten sie ein Gen klonen, das ein circadianes Verhalten der Fruchtfliege bestimmt. Seither konnten sie wichtige Proteine sowie deren Funktion identifizieren, die der biologischen, inneren Uhr zugrunde liegen. Diese Ergebnisse haben offenbar Gültigkeit für alle Tiere, also auch für den Menschen.

 

Chronobiologie in der Arbeitswelt

Die Chronobiologie hat auch eine gewisse Bedeutung für die Arbeitswelt ­erlangt. Denn diese hat bekanntermaßen ihre ganz eigenen Gesetze, die nicht unbedingt im Einklang mit der menschlichen Natur stehen. Auch die Autoren einer Publikation des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation über »Chronobiologische Arbeitsgestaltung« stellen fest, dass »zeitlich und räumlich entgrenzte Produktions- und Konsumsysteme den biologischen Rhythmen des Menschen« entgegenstehen. Die Folgen sind in Form von Überlastungserscheinungen und Krankheiten so offensichtlich wie weitverbreitet. Ein Begriff ist dabei zum Dauerthema in Talkshows wie in den Kulturwissenschaften geworden: die Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse.

Diese ist nicht lediglich technologischen Innovationen wie etwa der Digitalisierung geschuldet, wie auch der ­Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch »Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne« von 2005 betont. Beschleunigung, also die Zunahme von Handlungsepisoden pro Zeiteinheit, wie Rosa sie definiert, ­resultiert vor allem aus der an Effizienz und Leistung orientierten Ökonomie.

Nicht nur immer mehr alte Menschen klagen, sie kämen nicht mehr mit. Die Diskrepanz zwischen der individuell menschlichen Zeit und der gesellschaftlichen beziehungsweise einzuhaltenden Zeit bezeichnet der Chrono­biologe Till Roenneberg von der Ludwig-Maximilians-Universität München noch relativ harmlos als »sozialen Jetlag«. Rosa hat dagegen in seiner Ana­lyse noch klar auf den Zusammenhang der Beschleunigung mit der kapita­listischen Wirtschaftsweise und körperliche »Dysfunktionalitäten« als deren Resultate hingewiesen: Verpassensangst, Schlafstörungen, hurry sickness, Burnout, Depression – so lauten die Diagnosen der dem zeitgenössischen Kapitalismus entsprechenden Konsequenzen physischer und psychischer Zurichtung.

Die Chronobiologie bietet dabei zwar einen Ausgangspunkt für Kritik am kapitalistischen Arbeitsregime, das der Natur des Menschen entgegensteht. Die Ergebnisse dieser Wissenschaft werden aber auch dem Kapitalismus dienst- und nutzbar gemacht, ihr Gehalt wird zur Flexibilisierung der Arbeit und Optimierung der Produktion eingesetzt.

So äußerte etwa auch Biologe Roenneberg in einem Interview mit der Zeit, dass die Resultate dieser Forschung ­gesellschaftliche Implikationen hätten. Es sei zum Beispiel wünschenswert, dass Schüler nicht bereits morgens um acht Uhr in der Schule antreten müssten und dass Chefs ihre Mitarbeiter zum Verzicht auf Wecker anhalten sollten, damit sie auch wirklich ausgeschlafen zur Arbeit kämen.

Dass solche Einsichten tatsächlich immer häufiger Eingang in die Arbeitswelt finden, überrascht nicht unbedingt, schließlich arbeiten Chronobiologen auch daran, ihre Erkenntnisse der Wirtschaft verfügbar zu machen. So schlägt etwa der erwähnte Leitfaden für »Chronobiologische Arbeitsgestaltung« des Fraunhofer-Instituts einen chronobiologisch angepassten Arbeitstag vor. Maßnahmen können häufigere Pausen sowie flexiblere Arbeitszeiten sein.

Im Zuge dessen werden verbesserte Arbeitsbedingungen – zum Beispiel längere Pausen – in höhere Produktivität umgemünzt. So wurde etwa in der Stadtverwaltung Vechta eine 20minütige Entspannungspause zusätzlich zur normalen Mittagspause eingeführt. In dieser Entspannungspause können die Mitarbeiter, wenn sie wollen, ihre Büros abschließen und ein »Powernap« genanntes Nickerchen halten. Legitimiert wird dies mit höherer Produktivität.

So kommt das Thema Zeit auch ins Blickfeld politischer Parteien. Die Grünen haben 2016 als erste Partei einen Fraktionsbeschluss gefasst, der sich dem Thema widmet, gleichwohl es in der Gesetzgebung noch weitgehend unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf verhandelt wird.

 

Der Doppelcharakter von Wert, Ware und Zeit

Ein anderes Beispiel stellt die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik dar. Dieser interdisziplinäre Zusammenschluss hat in den 15 Jahren seines Bestehens ein Glossar erstellt, in dem beispielsweise Begriffe wie Zeitsouveränität und Zeitwohlstand erklärt werden. Wenngleich sich die Organisation dem Thema mit der Forderung nach einem »bewussten und demokratischen Umgang mit der Ressource und dem kulturellen Medium Zeit« nähert, steht zu vermuten, dass hier auch Politikern und Managern der human resources Instrumente an die Hand gegeben werden, um ­Arbeitsabläufe zu perfektionieren und Arbeitskraft zu effektivieren.

Begriffe wie Zeitwohlstand oder -reichtum verweisen auch auf die komplexe gesellschaftliche Rolle der Zeit. Zeit ist notwendige Bedingung der Produktion des materiellen, das heißt ­warenförmigen Reichtums; nicht nur, weil für diese Produktion schlicht Zeit notwendig ist. Dass der Wert einer Ware in durchschnittlich verausgabter abstrakter Arbeitszeit gemessen wird, war eine der zentralen Erkenntnisse von Karl Marx, die sich die Menschheit jedoch immer noch nicht ganz vergegenwärtigt hat. Das liegt auch daran, dass diese Begriffe, also Ware und Wert, aber genauso Zeit, als natürliche Eigenschaften erscheinen. Dass Zeit mit Uhren in feste, äquivalente Einheiten unterteilt und gemessen wird und dadurch unser gesamtes Leben beherrscht, war nicht immer so und ist auch nicht selbstverständlich. Bevor Zeit mechanisch gemessen wurde, ­waren Abläufe in der Natur ausschlag­gebend für das menschliche Zeitbewusstsein. Die Entstehung der Messung von Zeit kann jedoch nicht allein mit technischem Fortschritt erklärt werden, wie auch der Historiker Moishe Postone in seinem wegweisenden Werk »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« aufzeigt.

Vielmehr liegen ihr eine Veränderung im Verständnis dessen, was Zeit überhaupt ist, sowie die ökonomische Notwendigkeit, Zeit zu messen, zugrunde.
Es ist deshalb auch kein Zufall, dass mit der Aufklärung und dem Auf­kommen kapitalistischer Produktion die Zeit zu einem so bestimmenden Faktor wurde. Seither wird Arbeit in der Regel in Zeit gemessen statt in ­konkreten Arbeitsprodukten. Außerdem ist der Wert einer Ware bestimmt durch die Menge der für ihre Pro­duktion im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendig verausgabten ­Arbeitszeit. Der Doppelcharakter von Wert und Ware hat also auch eine Entsprechung im Doppelcharakter der Zeit, wie Postone zeigt, nämlich im Gegensatz von konkreter Zeit, die sich in Bezug auf menschliche oder natürliche Abläufe bestimmt, und abstrakter Zeit, die unabhängig von menschlichen Aktivitäten homogen und linear in eine Richtung fließt und messbar ist. Wichtig ist hier auch die Feststellung, dass das, was wir unter Zeit verstehen, also nicht transhistorisch, sondern historisch für den Kapitalismus spezifisch ist – eine auf den ersten Blick sicher irritierende Vorstellung.

Dass mit ihrem Verhältnis sowohl zur Arbeit als auch zur Zeit etwas nicht stimmt, spüren wahrscheinlich viele Menschen. Im kapitalistischen Produktionsprozess richtet man sich nicht nach äußeren oder inneren natürlichen »Taktgebern«, sondern lediglich nach Erfordernissen eines objektiven, vermittelten Zwangssystems, dessen Ver­körperung die Uhr darstellt – eine universelle Maschine zur Vermittlung, oder gar Umwandlung, von Zeit in Geld, könnte man sagen. Nicht zuletzt deshalb spricht Postone – und diesen ­Begriff gilt es, in seiner gesamten Bedeutung zu verstehen – von der Beherrschung der Menschen durch die Zeit. Ob die Chrono­bio­logie zur Erkenntnis beiträgt oder stattdessen zur Zementierung dieser Herrschaft, lässt sich leider nicht genau voraussagen.