Horst Mahler: die Psychopathologie des Postfaschismus

Der verunglückte Familienroman

Im Lebenslauf Horst Mahlers verdichtet sich die Psychopathologie des Postfaschismus. Dramaturgische Überlegungen zum bösen Clown der Achtundsechziger, zu seinen Mitstreitern und Gegenspielern.

Würde man die Geschichte der Revolte von den Achtundsechzigern bis zum Ende der RAF als shakespearisches Theaterstück erzählen, so hätte man im Vordergrund der Bühne eine schöne Ansammlung von Paranoikern, Opportunisten, Gespenstern, Narren und Königsmördern, von mehr oder weniger jungen Menschen, die sich lossagten um den Preis der Selbstverlorenheit, Menschen voller bösartiger, zerstörter und zerstörerischer Energien, die so sehr von Gesellschaft und Geschichte und noch mehr von sich selbst besessen waren, dass sie keine Empathie mehr für die Nächsten aufbringen konnten.

Und so gab es die neuen Mütter, die nichts mit ihren Kindern anfangen konnten (Gisela Elsner war da bestimmt kein Einzelfall, sie wurde nur zum Mittelpunkt einer magischen Biographie, so wie es auch Ulrike Meinhof bestimmt war), die neuen Väter mit ihrer Verweigerung des »Erwachsenwerdens« (die so in den Untergrund gingen, wie sie vorher ins Kino gegangen waren), es gab die von der rechten Mitte so spöttisch-niederträchtig »heimatlos« genannte Linke, die sich dann umso heftiger in diesen Begriff der »Heimat« verbeißen sollten, es gab die Sektierer und komischen Heiligen, die Resignierten und die Intriganten, jene, die als Medienkasperle wieder auftauchten, und andere, die sich ein Vergnügen daraus machten, ihr Leben und ihre Ansichten von »damals« öffentlich zu zerpflücken. Auch Konversionen als Handlungsstränge sind nicht schlecht, gern als Prozess des Vernünftigwerdens oder in der verschärfteren Form à la »Vom Achtundsechziger-Rebellen zum Investmentbanker«. Diejenigen, die links von der Bühne abgingen und rechts wieder auftauchten, sind da schon schwerer zu inszenieren. Ist das noch Tragödie? Oder schon Farce?

Gudrun Ensslin

Traumpaar im Untergrund: Andreas Baader und Gudrun Ensslin

Familienromane mit tiefen Wurzeln in der Nazizeit

Von den Heldinnen und Helden, so scheint es jedenfalls, bleibt nicht viel übrig. Rudi Dutschke, ein ehrbarer und aufrechter Mensch vielleicht, aber auch einer, der im Maschinengewehr-Rap-Tempo vollendeten Nonsens von sich geben konnte. Fritz Teufel und Rainer Langhans, die antiautoritäre Spaßguerilla, die sich vor allen Augen in Underground-Comicfiguren verwandelten. Wolfgang Neuss, der sich ins Nirwana kiffte. Ulrike Meinhof, eine der klügsten und engagiertesten Frauen ihrer Zeit, die aus revolutionärer Ungeduld oder doch wegen einer organischen Erkrankung alle Möglichkeiten opferte, die sie hatte, wirkliche Veränderungen zu bewirken (nicht einmal ihren eigenen, großartigen Film »Bambule« über die Heimerziehung in der BRD konnte sie mehr gelten lassen). Bernd Rabehl, der Verschwörungsparanoiker. Gudrun Ensslin, Zentrum einer vollkommen aus dem Ruder gelaufenen protestantischen Heiligenlegende. Und so weiter.

Stimmt das eigentlich alles? Es »stimmt« so weit, wie es Medienprodukt und Mythos ist. Kein Stück, auch bei Shakespeare, geht in einer solch oberflächlichen Betrachtung seiner Hauptfiguren auf. Das Stück ist mehr als seine Protagonisten und die Protagonisten sind mehr als das Stück. Und hinter den Darstellern an der Rampe wirken die wahren dramaturgischen Kräfte. In den Kulissen, jenseits der Bühne. Nicht zuletzt: in der Sprache. Als Sprache. Und als Bild. Inszenierung eben.

Die psychologisch-realistischen ebenso wie die mythischen Erzählungen geben nur einen Bruchteil der »Wahrheit« wieder, und diese »Wahrheit« wiederum ist nur ein Bruchteil des Geschehens. Wie dem auch sei; von den meisten dieser Protagonisten ist nicht zu erzählen ohne ihre Familienromane mit ihren tiefen Wurzeln in der Nazizeit und oftmals flacheren Wurzeln in der Geschichte der beiden Deutschlands. Die helle, wenngleich dramatisch und shakespearisch blutige Seite des Dramas ist jene der notwendigen Veränderung der postfaschistischen, patriarchalen und bigotten bundesdeutschen Gesellschaft, die am Ende bis zu einem gewissen Grad stattgefunden hat (wenn auch nicht im Sinn der Protagonisten). Die Wahnsinnigen, Mörderischen, Paranoiden haben die Bühne verlassen (viele tot, einige gefangen, verletzt, geläutert), die Vernünftigen, Bedächtigen, Moralischen haben sie betreten. (Das Publikum ist nicht amüsiert und geht nach Hause.) Die dunklere Seite des Dramas aber handelt von »Identität«. Von Menschen, die jemand anders werden wollten und dabei nur noch mehr sie selbst wurden. Vom Zerbrechen, Verspiegeln, Auflösen und falsch Zusammensetzen.

Daran stimmt sehr viel und auch sehr wenig. Nur dass auch hier die Sieger die Geschichte schreiben, das stimmt selbstverständlich. Wenn auch nicht mehr in der klassischen Form einer puren Lüge, sondern eher in der Form eines nutzbringenden Konglomerats. Denn nie lässt sich eine Psychopathologie der RAF und ihrer Geschichte schreiben, ohne dass sich damit eine Psychopathologie des Postfaschismus verbinden müsste. Daher hat sich die deutsche Gesellschaft kollektiv für einen »ungenauen Blick« entschieden. Weil es durch einen genaueren Blick geschehen könnte, dass man »Terror« ansieht und »Deutschland« zurückblickt.

 

Bernd Rabehl

Zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht rechtsextrem: Bernd Rabehl

 

Horst Mahler: die bösartige Karikatur

Welche Rolle spielte bei alledem Horst Mahler? Er vereint, so will es scheinen, zunächst einmal alle negativen Rollenbilder auf sich, so sehr, dass es nur zu einer gewaltigen, bösartigen Karikatur reicht: Er ist der Paranoideste unter den Paranoikern. Der Tückischste unter Tückischen. Der Verräterischste unter Verrätern. Der Krankeste unter Kranken. Und: Er spielte stets die »diabolische Freude« an diesem Spiel mit. Wenn man ihn sah und hörte, sah und hörte man auch immer einen Zweiten, einen der manisch und gierig verfolgte, was sein Geschöpf da anrichtete. Auf der Bühne stehen da immer (mindestens) zwei Horst Mahlers. Einer, der ein Faust sein will, und einer, der ein Mephisto sein will. Und immer wieder will der eine der andere sein, schon deshalb obsiegt das Element der Farce.

Familienroman und Biographie liefern sämtliche Klischees, die ein Nachwuchsbühnenautor für die Rollengestaltung nutzen könnte: Sohn eines Zahnarztes und Super-Nazis, der sich 1949 aus Gram über das neue Deutschland namens DDR oder was auch immer erschoss, und Neffe des SA-Führers Reinhold Nixdorf. In einem Interview mit dem israelischen Reporter Naftali Glicksberg, so steht es auf Wikipedia, »berichtete Mahler, seine Mutter habe ihm unter Tränen erzählt, dass auch Juden unter seinen Vorfahren waren«. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat da einer von beiden, der Sohn oder die Mutter, gelogen. Aber wahrscheinlich ist diese übrigens gängige Lüge doch auch Zentrum einer wirklichen Traumatologie: Der Familienroman kann nicht stimmen, so oder so. Der jüdische Fleck im Blut schillert zwischen Erlösung und Verdammung; beinahe gleichgültig, ob es ihn »wirklich« gibt oder er das Phantasma von Menschen ist, die nicht überwinden können, dass der Faschismus besiegt wurde.

Selbstmord des Nazivaters und geheime jüdische Identitätsspuren im Familienroman: Die Grundsteine einer magischen Biographie sind gelegt. Und dann die flacheren Wurzeln: 1949, im Jahre des Selbstmords seines Vaters, wird der antikommunistisch erzogene 13jährige von der Familie gedrängt, Vorsitzender der FDJ-Gruppe seiner Schule zu werden, denn so etwas sei angesichts seines politischen Stammbaums die einzige Möglichkeit später, eine Zulassung zum Studium zu ergattern. Mahler hat das als »Trauma« seiner Kindheit bezeichnet. Verschärft freilich durch den Umstand, dass die Familie bald darauf in den Westen übersiedelte und er also von seinem »Opfer« eher Nachteile als Vorteile erwarten konnte.

Zunächst konnte Mahler dort seiner antikommunistischen Prägung Rechnung tragen: Als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes (eine Institution zur Förderung von Begabten, die ihren politisch-mythischen Gehalt im Namen trägt) studierte er Jura an der Freien Universität Berlin, wo er Mitglied der »schlagenden« Studentenverbindung »Landsmannschaft Thuringia« war. Wer will, kann auch hier wieder die beiden Triebkräfte Begabung und Geltungssucht am Werk sehen, Symbol und Aktion. Aber man will ja auch vorwärtskommen in dieser Zeit, nach der Studentenverbindung kommt die Partei. Weil die SPD damals beschlossen hatte, keine Mitglieder von schlagenden Verbindungen aufzunehmen, trat Mahler aus der Thuringia aus. Offensichtlich bereitete er sich auf eine politische Karriere vor und versuchte sich dabei – vergeblich – auch als Journalist. Als er 1960 dem SDS beitrat, wurde Mahler aus der SPD ausgeschlossen.

 

Das Rechte und das Linke, das Rebellische und das Autoritäre

1964 gründete er seine Anwaltskanzlei in Berlin und spezialisierte sich dabei zunächst auf wirtschaftliche Themen. Zur selben Zeit aber engagierte er sich bereits auch als Anwalt in der außerparlamentarischen Opposition, gehörte aber wohl am Anfang eher zum Flügel der »alten« Linken. Erstaunlicherweise kümmerte er sich nun ganz besonders um Kontakte mit Vertretern der DDR und der Sowjetunion. Ob er dabei auch als »inoffizieller Mitarbeiter« des Ministeriums für Staatssicherheit wirkte, wie einige Zeitungen im Jahr 2011 behaupteten, ist für die politische wie für die magische Biographie des Horst Mahler eher unerheblich. Fataler scheint, dass er seine Talente und seine Geltungssucht eher aus einer Sehnsucht nach Anbindung, gar »Führung« als aus Überzeugung und Hoffnung entfaltete. Das Rechte und das Linke, das Rebellische und das Autoritäre flackerten offensichtlich von Anbeginn in diesem Leben. Das machte Mahlers Nützlichkeit, aber eben auch seine Gefährlichkeit für jedwelche Bewegung aus.

Ulrike Meinhof

Trotz betrübten Blicks lieber wütend als traurig: Ulrike Meinhof

Er betrat diese Bühne immer von der Seite her, gefiel sich stets als Einflüsterer und Zuträger und neigte doch zu schrillen Extempores. Insgeheim, so kann man vermuten, ist die Gestalt Mahler eine, die die »naiven« Helden, die Liebhaber, aber eben auch die reinen Schurken und sogar die Komiker beneidet. Das sind »identitäre« Gestalten; Mahler ist es nicht. Er vermag alles zu »analysieren«, auch sich selbst, aber daraus wird nicht Erkenntnis, sondern immer wieder nur Strategie, und das Strategische sucht vergeblich nach einem Ziel. Immer ist er in der zweiten Reihe, der Strippenzieher, der Regieassistent: In den Jahren von 1964 bis 1970 verteidigt er vor Gericht Beate Klarsfeld, Fritz Teufel und Rainer Langhans, Rudi Dutschke, Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Die Anmerkung im Regiebuch mag lauten, er wirke dabei, als wollte er von jedem seiner Klienten etwas aufnehmen, als sauge er Persönlichkeits- und Krankheitspartikel in sich auf. Wie einer mit einem steinernen Herzen, der sich eine Seele zusammenstellen möchte. Aber das ist selbstverständlich auch nur ein Bühnenklischee und muss entsprechend reflektiert werden.

Wie dieses: Mephisto will Faust werden und zum Anfang gelangen, zur Tat. 1970 war Horst Mahler bei der Gründung der RAF dabei; er war an der Planung der Befreiung Andreas Baaders und dreier Banküberfälle beteiligt. Nach der Befreiungsaktion war er mit anderen RAF-Mitgliedern in Jordanien, um sich dort für den bewaffneten Kampf ausbilden zu lassen. An welche Grenzen gelangte er dort? Nach seiner Rückkehr wurde er in Berlin verhaftet und zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Anwalt Otto Schilly, wieder so eine Geschichte, brachte ihm die gesammelten Werke Hegels in die Zelle, die ihn, so Mahler selbst, »für seinen weiteren Lebensweg maßgeblich beeinflussten«. Sollen wir nun Freud und Marx beiseite legen und Mahler mit Hegel verstehen?

Wer braucht so etwas? Immer eine äußere Form, eine Autorität, die Bestimmung, dieses Außenskelett eines – nächstes Klischee – vaterlosen Kindes. Die Suche nach etwas Vorgezeichnetem. Die Angst vor allem Offenen. Die Notwendigkeit der Gewalt. Immerhin ist vielleicht hier schon klar, dass es nie so recht auf den Inhalt, sondern immer auf die Form ankam. Dass der Weg von der »Neuen Linken« zum »Neofaschismus« in eben diesem Rekonstrukt bestand. Selbst im Gefängnis hat Mahler durchaus hellsichtige Analysen seines Werdegangs und seiner einstigen Genossen, bei der – man kann es nicht anders sagen als: »verkauft« –  aber auch diese konnten nun nicht zu einer inneren Erkenntnis, sondern nur zu einem Wandel der Form führen. Und so schien es, nächste Regieanweisung, als habe sich für ihn gar nicht viel geändert durch den Wechsel von der radikalen Linken zur extremen Rechten, nicht weil links und rechts einander so ähnlich wären, sondern weil dieser Horst Mahler zu beiden Seiten ein »kaltes«, strategisches und konstruiertes Verhältnis hatte.

Zuvor hatte ein weiterer plot point stattgefunden: Am 27. Februar 1975 entführte die »Bewegung 2. Juni« den Politiker Peter Lorenz, damals CDU-Spitzekandidat bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl, um die Entlassung inhaftierter Genossen zu erpressen, zu denen neben Verena Becker, Rolf Pohle oder Ingrid Siepmann auch Horst Mahler gehörte. Und der lehnte, die Bühne der ARD-Tagesschau öffnete sich dafür, den Austausch öffentlich ab. »Die Strategie des individuellen Terrors ist nicht die Strategie der Arbeiterklasse« war einer der Schlüsselsätze in einer merkwürdigen Ansprache, die die Begriffe der radikalen Linken zwar noch verwendete, aber bereits aushölte und umwandte. Es war der große Auftritt, was zählte. In der Folgezeit wurde Horst Mahler zu so etwas wie einem kulturellen Kronzeugen der Mainstream-Kultur: Durch ihn und mit ihm wollte man verstehen, was da über das Land und über die Seelen gekommen war. Und Horst Mahler lieferte.

Der Bundesinnenminister Gerhart Baum von der FDP, der Publizist Iring Fetscher und der »nationalkonservative« Sozialphilosoph Günter Rohrmoser gehörten zu seinen Gesprächspartnern in seiner Zelle, letzterer als Mitglied der von der SPD/FDP-Regierung eingesetzten »Kommission zur Erforschung der geistigen Ursachen des Terrorismus«. Diese, wie man so sagt, kammerspielartigen Szenen lassen die Zuschauer rätseln, wer da mit wem welche Spiele spielt. Mahler versorgte seine Gesprächspartner jedenfalls mit Modellen und Erzählungen, Erklärungen und Bestätigungen, aber zugleich fanden diese in ihm auch ein (scheinbar) formbares Wesen, das sich glänzend als Vorbote einer kommenden Versöhnung eignete. So also wurde Horst Mahler, nachdem Bücher, Artikel und Filme zuhauf erschienen waren, die »die geistigen Ursachen des Terrorismus« hinreichend einbalsamiert hatten, frühzeitig aus der Haft entlassen. Der Rechtsanwalt, der ihm dabei half, hieß übrigens Gerhard Schröder und wurde später Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.

 

Rudi Dutschke jung

Ein Lächeln für das Passfoto: Rudi Dutschke

Mahler: der Mephisto-Anwalt

Zunächst setzte Horst Mahler nun seine Suche nach einer »politischen Heimat« (denn eine andere hatte er nicht) fort und versuchte es kurzzeitig mit der FDP. Das freilich schien nur der mählichen Vorbereitung auf einen nächsten Theatercoup zu dienen. Die Gelegenheit dazu kam am 1. Dezember 1997, als Mahler eine Laudatio zu Günter Rohrmosers 70. Geburtstag hielt. Er sprach nun von einem »besetzten Deutschland«, das seine »Schuldknechtschaft« abschütteln und zu »nationaler Identität« gelangen müsse.

Rohrmoser selbst (erinnert sei an das Gespräch in der Zelle) inszenierte sich nun als geistiger Ziehvater des geläuterten und ins Lager des national-christlichen Konservatismus heimgekehrten verlorenen Sohnes. Aber Horst Mahler war schon wieder auf dem Weg zum Extremismus, den Vater drückte er schon wieder weg. Immer wollte er Sohn sein, immer konnte er es nicht. Er musste an den Rand, weil er im Zentrum niemand sein konnte. Er brauchte Material für seine Manipulationskünste. Vor allem brauchte er, nach der Begegnung mit den »Vätern« in der Zelle der Läuterungen und Häutungen, wieder Menschen, die ihm geistig unterlegen waren. Und neue Bühnen brauchte er auch.

Mit Franz Schönhuber, einer ähnlich schrägen Gestalt des verunglückten Familienromans und der verfehlten Identität, veröffentlichte er im Jahr 2000 das Pamphlet »Schluss mit dem deutschen Selbsthass«. Der Titel war haarscharf an einer überdeutlichen Selbstaussage vorbei gewählt. Da wollten zwei Männer »politisch« mit ihrem eher persönlichen Selbsthass fertig werden. In der Folgezeit wurde der Nationalismus offenkundig und in dessen Folge der allgemeine und der spezielle Rassismus (wir erinnern uns an die tränenreiche Muttererzählung vom jüdischen »Fleck« im Familienstammbaum) sowie die Sehnsucht nach dem »Deutschen Reich« und der Wiederkehr einer Superidentität. Doch wieder wurde nichts aus einem Dreamteam der neuen deutschen Rechten, denn Horst Mahler musste weiter. Weiter nach rechts. Und wieder wurde Mahler der Mephisto-Anwalt, nur diesmal für die extreme Rechte. Zwischen 2001 und 2003 verteidigte er die NPD gegen den Verbotsantrag. Die Partei verließ er, weil sie ihm zu »parlamentarisch« war. Offenbar gehört es zu seiner »politischen Identität«, fundamental »außerparlamentarisch« zu sein, in überschaubaren Szenen zu arbeiten, in denen sich krasse Hierarchien verwirklichen lassen.

Erneut wollte sich Mephisto in Faust verwandeln. Die Droge der »Radikalisierung« trieb Horst Mahler über alles Strategische und Taktische hinaus, alle musste er zumindest an Verbalradikalismus übertreffen, was ihn zunächst das Anwaltspatent und dann wieder die Freiheit kostete. Aber ist es nicht so, als wollte er unbedingt in diese Zelle zurück? Die Zelle, die sein Lebensmodell gewesen war.

Hatte er nicht einer Gesellschaft den Kampf angesagt, in der er nicht leben konnte, in der er einfach keinen Platz fand, nicht obwohl, sondern gerade weil sie es ihm immer wieder ermöglichen wollte, in die »normale« Mitte einzutauchen? Horst Mahlers Verhalten in den Jahren ab 2000 trug deutliche Spuren eines gesellschaftlichen Selbstmords. Alles, so schien es, musste hinaus, was taktisch ansonsten lieber indirekt oder in kontrollierten Kanälen der Neofaschisten ausgetauscht wurde. 2000 forderte er in einer »Ausrufung des Aufstandes der Anständigen« das Verbot der jüdischen Gemeinden in Deutschland und die Ausweisung aller arbeitslos gewordenen Ausländer. Signifikant genug erklärte er den Hass auf Juden zum »untrüglichen Zeichen eines intakten spirituellen Immunsystems«. Die Bühnenanweisung: Da schreit einer mit ganzer Kraft die Psychopathologie des deutschen Faschismus und seiner Wiederkehr hinaus. Als wollte Horst Mahler sich auch hier wieder zum Kronzeugen anbieten, die »geistigen Grundlagen des Terrorismus« zu verstehen. Als wäre er auch hier nicht, wie schon damals, in einer Bewegung, sondern auf einer Bühne oder in einem Gerichtssaal.

Längst hatte Horst Mahler zu dieser Zeit alle taktische Vorsicht aufgegeben. Es ging ihm offensichtlich nur noch um sich selbst. Jede neue Provokation brachte ihm kurzfristig Erleichterung; langfristig brachte ihn die Droge »Radikalisierung« um. Bis zu einem gewissen Grad wurde er nun auch zu einem jener »Politclowns«, die er früher einmal, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang, verteidigt hatte. Der Genuss der Provokationen war so groß, etwa wenn er vor der Strafvollzugsanstalt den Hitlergruß zeigte, nur um dafür erneut verurteilt zu werden, dass er um keinen Preis der Welt davon lassen konnte. Als »prominenter« Holocaustleugner versuchte Horst Mahler schließlich, die Rolle zu wiederholen, die er schon einmal mit so großem Erfolg gespielt hatte: Der »diabolische« Meister, der in seiner Zelle von den neugierigen Journalisten, Politikern und »Philosophen« besucht wird, die herausfinden wollen, ob dieser Mann, der zwar offenkundig verrückt und extrem unangenehm ist, aber immer noch über einen scharfen Intellekt verfügt, etwas zu sagen hat, über die deutsche Traumatologie. Die Zelle, so oder so, das war der Thronsaal des Mahlerschen Nichtsubjekts. Als er 2007 der Zeitschrift Vanity Fair ein Interview zusagte und seinen Interviewpartner Michel Friedman mit den Worten »Heil Hitler, Herr Friedman« begrüßte, brachte ihm das eine erneute Haftstrafe und offenkundig einen neuen Rausch der Selbstbestätigung ein. Was den Terroristen der RAF prinzipiell und nachhaltig verweigert wurde, nämlich die Anerkennung ihrer Taten als politische, das wurde Horst Mahler als Neofaschisten mehr oder weniger großzügig gewährt. (Eine Pointe, die wir in unserem Stück herausarbeiten müssen.) Horst Mahler hatte seine Lebensrolle als böser Clown des Neofaschismus gefunden.

Sein in der Zelle immerhin begonnenes autobiographisches Werk erhielt den vielsagenden Titel »Ende der Wanderschaft«. Es enthält, wie sollte es anders sein, die deutsche Antwort auf alle Fragen von Kosmos und Biographie: Der Jude ist an allem schuld. Der Jude muss weg. Es ist ein böser Mensch, der nun ans Ende seiner lächerlichen Wanderschaft gelangt ist. Und es ist einer, der sich selbst nur um dieser Bosheit willen enthassen konnte.

 

Epilog: das absurde Leben und Wirken des Horst Mahler

Ist dieses absurde Leben und Wirken des Horst Mahler wirklich eine metaphorische Erzählung über Deutschland vom Post- bis zum Neofaschismus? Ist dieser Horst Mahler wirklich eine Erklärung, das Symptom einer deutschen Krankheit und Krankheit an Deutschland, oder fällt man damit noch ein letztes Mal auf die ungeheure Inszenierungskraft eines heillos kaputten Menschen herein?

Soll man eine Shakespeare-Tragödie daraus machen, in Anbetracht dessen, dass eine solche Inszenierung echte Menschenleben kostet, tiefe Verletzungen bereitet, nachwirkt ins Mörderische, an das man sich zu gewöhnen beginnt? Oder ist es doch eine Farce, das krause Spiel eines Nichtsubjekts, das schon immer wie ein grinsender Joker auf die Schwächen seiner Umwelt reagierte, das seine Ichlosigkeit zurückwarf und das nur jemand aus zweiter Hand sein konnte, aber als blutige Übertreibung all der Originale, die er verfehlen musste. Einer, der Identität suchte, weil er keine Persönlichkeit bilden konnte, einer, der hohe Intelligenz mit abgrundtiefer emotionaler Rohheit verband, einer, der einer sein wollte, und doch keiner wurde, nur in der Vernichtung der anderen sein Traum-Ich sah, der geniale und doch gescheiterte Manager seines Selbsthasses als Hass auf andere.

Dürfen wir, in unserer Inszenierung, halb Farce und halb Tragödie, kleine Momente des Mitleids mit Horst Mahler zulassen? Oder ein Erschrecken darüber, wie viel Leeres und Triviales hinter Skandal und Bosheit zum Vorschein kommt? Darf es als das stimmige Bild einer bilderreichen Aufführung gelten, dass einer, der offenbar zeit seines Lebens mit seinem »Blut« gehadert hat, fast an Blutvergiftung starb? Soll das Publikum belehrt oder beschämt nach Hause gehen? Nur so viel ist sicher: Der Horst Mahler unserer Inszenierung ist bei weitem interessanter als der echte Horst Mahler.