Das Buch »Die Jahre« von Annie Ernaux

Unbewegte Bilder

In »Die Jahre« gelingt Annie Ernaux, was Didier Eribon in »Rückkehr nach Reims« nur versprochen hat: die glückliche Allianz von Autobiographie und Historiographie.

Die in Kommoden und auf Dachböden abgelegten Lebensreste aufzuspüren, um sie als Zeugnisse vergessener Erfahrung zu entziffern, ist der Impuls des literarischen Werks von Annie Ernaux. Hierzulande ist die Autorin, die in ihrer Prosa seit mehr als 25 Jahren die genuin französische Tradition literarische Verschränkung von Gedächtnis und Einbildungskraft fortsetzt, erst im Zuge des Kults um Didier Eribon bekannt geworden. Wie Eribon ist sie im armen Norden Frankreichs aufgewachsen, wie er kommt sie aus einer Arbeiterfamilie und musste sich mühsam im akademischen Betrieb behaupten. Doch Ernaux ist 13 Jahre älter als der 1953 geborene Eribon, der ihr 2008 erschienenes Buch »Les années« als Vorbild seiner Autobiographie »Retour à Reims« angeführt hat. Das Lob hat in diesem Fall auch einen Beigeschmack von Erniedrigung. Zwar scheiterte Eribon, dessen Vater Fabrikarbeiter und dessen Mutter Putzfrau war, an der Universität und arbeitete, was in Frankreich möglich ist, ohne Habilitation als Hochschullehrer. Doch seine Freundschaften mit Michel Foucault, Claude Lévi-Strauss und anderen akademischen Exponenten ermöglichten ihm eine nachholende Karriere. Eribons konfliktreiche Beziehung zur Kommunistischen Partei und sein Bekenntnis zu seiner Homosexualität haben diesen Aufstieg in einem Land, in dem Intellektuelle ganz selbstverständlich als politische Autoritäten geachtet werden, eher begünstigt als gehemmt.

»Retour à Reims«, das auf Deutsch sieben Jahre nach Erscheinen des Originals publiziert wurde, ist von diesem nachholenden Erfolg geprägt. Es ist keine Autobiographie, die in der Revokation des eigenen Lebens der Phantasie Raum gäbe, sondern die Selbstanalyse eines Intellektuellen, der seine für französische Bedingungen untypische Laufbahn auf ihren gesellschaftlichen Symptomcharakter hin untersucht. So etwas gelingt nur auf der Grundlage gewonnener Selbstsicherheit. Ernaux, deren Buch »Les années« nun ebenfalls auf Deutsch vorliegt, hat ihre Arbeit dagegen unter das Vorzeichen des drohenden Vergessens gestellt. »Alle Bilder werden verschwinden«, lautet der erste Satz von »Die Jahre«, und gegen Ende nennt die Erzählerin als Aufgabe der Literatur, »das Licht einzufangen, das auf jetzt unsichtbare Gesichter fällt, auf Tischdecken mit verschwundenem Essen, ein Licht, das schon in den Erzählungen ihrer Kindheit da gewesen war, bei den sonntäglichen Familienessen, und das sich seither auf alles gelegt hat, was sie erlebte, ein früheres Licht«. Darin schwingt mit, was Ernaux von Eribon unterscheidet. Auch ihre Eltern waren Arbeiter, nach dem Studium verdiente sie ihr Geld als Gymnasiallehrerin. Doch eine akademische Karriere blieb ihr verwehrt, und während Eribon in »Rückkehr nach Reims« seine Doppelrolle als Autobiograph und Sozialhistoriker zum Ausgangspunkt der Darstellung nimmt, hat Ernaux Autorenschaft und bürgerlichen Beruf voneinander getrennt.

Die Vorläufigkeit und Widerruflichkeit aller Erfahrung sind Grundmotive in »Die Jahre«. Sie fungieren als Einspruch gegen vorschnelle Selbstgewissheit. Am Ausgang des ersten Teils schreibt die Erzählerin, die im Gegensatz zu Eribon statt »ich« durchweg »sie«, »man« oder »wir« sagt, wenn sie ihre Lebensgeschichte thematisiert: »All das wird innerhalb einer Sekunde vergehen. Getilgt das von der Geburt bis zum Tod angesammelte Wörterbuch. Stille wird eintreten, und man wird keine Wörter mehr haben, um sie zu sagen. Aus dem offenen Mund wird nichts mehr kommen. Kein Ich, kein Mir, kein Mich. Die Sprache wird die Welt weiter in Worte fassen. Bei Familienfeiern wird man nur noch ein Vorname sein, von Jahr zu Jahr gesichtsloser, bis man in der anonymen Masse einer fernen Generation verschwindet.« Die Kränkung der Sterblichkeit wird nicht als tiefsinnige metaphysische Einsicht ausgesprochen, sondern als Aufforderung, die Erfahrung der Jetztzeit, in der jeder lebt, als die einzige Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis festzuhalten, die den Individuen gegeben ist.

Alte Filmbilder (»Simone Signorets Gesicht auf dem Plakat von Thérèse Raquin«), aus dem Gebrauch gekommene Redewendungen (»schauen wir mal, dann sehen wir schon«), altertümliche Witze (»Lebensende mit drei Buchstaben: Ehe«), verblichene Markennamen und Fotografien werden zu affektiven Bildern, an denen sich der Protest gegen die Zumutung entzündet, dass die jedem gegebene Lebenszeit wirklich alles gewesen sein soll. Aus der konservativen Erinnerung entspringt der Wunsch nach künftigem Glück: »Wie das sexuelle Verlangen ist die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und Geschichte.« Die Gegenwart des Vergangenen in der Erinnerung erschließt sich dem detektivischen Blick, der an Spuren der Lebensgeschichte hervortreten sieht, was damals im Dunkeln blieb. Leitmotivisch dafür ist das auf den Dingen liegende, sie durchschneidende Licht: »Die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart ermisst sich vielleicht an dem Licht, das zwischen den Schatten auf den Boden fällt, das auf den Gesichtern liegt und die Falten eines Rocks hervorhebt, an der dämmrigen Helligkeit eines Schwarzweiß-Fotos.« Dieses Licht fällt bei Ernaux auch auf die Nachkriegszeit, die in ihrem Kindheitsgedächtnis anders als beim später geborenen Eribon festgehalten bleibt: als eine Zeit, die in der Erinnerung das Pathos von Résistance und Befreiung dementiert, das das kollektive Gedächtnis bestimmt. Das Dementi liest sie der historischen Landschaft der Kindheit ab: »Von dem strahlenden Heldenepos übrig geblieben waren nur die stummen grauen Ruinen der Bunker am Fuß der Steilküste und die endlosen Trümmerlandschaften der Städte.«

Aufgehoben war das Versprechen der Freiheit in einem Alltag, der sich, obgleich eine bürgerliche Öffentlichkeit sich erst allmählich wieder herstellte, außerhalb der Häuser abspielte: »Ob religiös oder weltlich, jeder Anlass war willkommen, um zusammen draußen zu sein.« Das Herausgehen aus der Sphäre des Privaten, die freiwillige Hingabe an unbekannte Gesichter, Anblicke und Orte wird abseits politischer Programme auch bestimmend für Ernaux’ Erfahrung der Achtundsechziger-Zeit: »Das ganze Land war in Bewegung, Bauern gingen aus den Bergen ins Tal, Studenten wurden aus den Innenstädten vertrieben und bezogen einen neuen Campus draußen vor der Stadt.« Wer in Ernaux’ Buch die historischen Ereignisse der Epochen sucht, wird enttäuscht sein. Während Eribon sich in selbstbewusster Rückschau als Repräsentanten eines bislang nicht in den Blick gerückten Intellektuellentypus vorführt, spricht Ernaux über sich selbst nur mittelbar, gebrochen in der Erinnerung an Objekte, Gesichter und faits divers, die ihr begegneten. Was dem Ich geschieht, ist mit dem, was in der Welt geschieht, nicht zu verrechnen: »Es sind zwei Parallelen, die eine aus Nachrichten, die man sofort wieder vergisst, die andere aus unbewegten Bildern.« Die vergehende Zeit ist Objekt des Historiographen, das unbewegte Bild, in dem die Zeit gefriert und dem Blick als gegenwärtige Vergangenheit gegenübertritt, ist Gegenstand der erinnernden Einbildungskraft. Indem sie sich an unbewegte Bilder hält, setzt Ernaux die vorpolitische Erfahrung gegenüber dem sich selbst als politische Person historisierenden Blick ins Recht.

Dass dies kein Ausweichmanöver ist, wird unverkennbar, wo vorpolitische Erfahrung und epochales Ereignis doch einmal zusammentreffen. Nie sind die Attentate des 11. September 2001 so präzise gefasst worden wie in »Die Jahre«: »Jeder überlegte, was er in dem Moment getan hatte, als das erste Flugzeug ins World Trade Center einschlug und Menschen sich an den Händen nahmen und in die Tiefe sprangen. Zwischen beidem gab es keinen Zusammenhang, man hatte einfach nur zur selben Zeit gelebt wie die dreitausend Menschen, die bei dem Angriff sterben würden und die eine Viertelstunde vorher nichts davon ahnten.« In solcher Zusammenschau des Zusammenhanglosen überlebt angesichts des Unfassbaren eine Solidarität, die der Islamismus der Menschheit austreiben will. Ihr Telos ist die Rettung des Stummen, durch die Maschen Gefallenen, dessen glückliche Banalität die Spur des Menschlichen trägt: »Gerettet werden soll/der Tanz der Autoscooter in Bazoches-sur-Hoëne/(…) das Karussell im Kurpark von Saint-Honoré-les-Bains/(…) das eingerissene Plakat mit einer halbnackten Frau und der Minitelnummer 3615 Ulla, das an der Straße hing (…)/der Blick der schwarzen Katze, als sie nach der Spritze einschlief.«

Annie Ernaux: Die Jahre. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, Berlin 2017, 256 Seiten, 18 Euro