Eine Erinnerung an die Internationalen Essener Songtage und ein desaströses Konzert der Mothers of Invention im Berliner Sportpalast

Undeutscher Beat

1968 war keineswegs das Jahr, in dem der musikalische Sonder­weg Deutschlands endete.
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Von Walter Ulbricht, immerhin über 30 Jahre lang Vorsitzender der SED, erinnert man sich als besonders reaktionär an einen Ausspruch, den er 1965 auf dem XI. Plenum des ZK der Einheitspartei von sich gab: »Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.« Kaum fünf Jahre nach diesem XI. Parteiplenum war Ulbricht entmachtet. Nicht zuletzt in seinem Beharren auf einer von ausländischen Einflüssen freien »sozialistischen Volksmusik« zur exklusiven Beschallung der DDR hatte er sich als der realitätsfremde Ignorant entpuppt, der er war.

So absurd das alles in der Rückschau klingen mag, sind Haltungen wie die Ulbrichts doch tief verwurzelt im spezifisch deutschen Verhältnis zu populärer Musik. Denn was bis zur Ankunft der Beatles, auf die der ZK-Vorsitzende anspielte, als populäre Musik galt, war von vorneherein kein folk, sondern ein nationales Erbauungs- und Erziehungsprojekt. In ihm drückt sich die Geschichte einer Nation aus, die keine war und ohne preußisches Militär auch nie eine geworden wäre; die Liedsammlungen der Brüder Grimm samt ihrer musikalisch-redaktionellen Bearbeitung durch Achim von Arnim und Clemens Brentano im 19. Jahrhundert rechnen zum durchaus erfolgreichen Versuch, den Deutschen einen reaktionären Nationalmythos anzudrehen, einen kulturellen Korpus von zünftiger Harmonie und apolitischer Innerlichkeit als Gegengift und vermeintliche historische Mission in einer rasant sich entzaubernden Welt, kurz gesagt: Gegenaufklärung vom ersten Notenschlüssel an.

Essener Songtage
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Archiv 2. Juni

Militär und Mythos: die Quellen der deutschen Popmusik

Daraus entwickelte sich eine deutsche Besonderheit, der Schlager. Er entstand als Wechselbalg aus den kitschig-klebrigen Sujets vorindustriellen Zuschnitts, die Schlagertexte weiterhin prägen, und dem Takt, in dem die Industrialisierung in Deutschland allen Heiderösleins zum Trotz vorangetrieben wurde – und dieser Takt war der des militärischen Stechschritts, dem als Musikgattung der Marsch entspricht, mit seinem geraden Rhythmus und seiner stumpfsinnigen Metrik, die immer noch für die typische aufgekratzte Steifhüftigkeit des Schlagers sorgt.

Weil die Quellen der deutschen Populärmusik also Militär und Mythos waren, wirkten die ersten zaghaften deutschen Adaptionsversuche von Rock’ n’ Roll und Beat denn auch so ungelenk: Der angestammte thematische Horizont hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nur insofern verändert als nun die Caprifischer mit derselben Intention besungen wurden wie zuvor die blonden Maiden. Dem im Marschrhythmus disziplinierten Körper, der in der Masse mitgeht und sich nicht tanzend aus ihr löst, blieb die aus den USA und Großbritannien hereinschwappende Musik fremd und feindlich; jene Musik, die zum einen vom tatsächlichen Alltag erzählte und die zum anderen körperliche Individualisierung geradezu verlangte.

So blieb Rockmusik in Deutschland lange (bis in die späten Siebziger) ein veritabler Störfaktor, der nicht nur die Generationenordnung erschütterte, sondern in gewisser Weise tatsächlich die tradierte nationale Vorstellungs- und Empfindungswelt in Frage stellte. Und das zu beklagen, war nicht allein Reaktionären vorbehalten, die mit dem nicht selten erhobenen Vorwurf, dass Beat-Musik »undeutsch« sei, auf ihre Weise durchaus recht hatten. Auch die politische Linke, und das betraf nicht nur die Ulbrichts, war der popkulturellen Invasion aus dem Westen nicht eben zugetan. Denn auch sie betrachtete populäre Musik in erster Linie – damit die Tradition der Grimms und Brentanos fortsetzend, wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen – als ein ex machina herzustellendes Erziehungs- und Agitationsinstrument, das die Avantgarde nutzen sollte, um die Massen aus ihrer alltäglichen Lethargie aufzurütteln und zu revolutionärem Bewusstsein zu führen. Es wäre unzutreffend zu sagen, dass das auf musikalischer Ebene immer geschadet hätte: Gerade jene vollendet »künstlichen« Arbeiterlieder aus der Feder Hanns Eislers und Kurt Weills, die sich klanglich an der fortgeschrittenen E-Musik orientierten (der eine war ein Schüler Arnold Schönbergs, der andere von Busoni beeinflusst), sind aller Ehren wert. Gerade Weill aber, der sich sehr für die zeitgenössische Populärmusik der englischsprachigen Länder interessierte und sich in der DDR auch für sie stark machte, war sich dieses Charakters der Erziehungsmusik und des gesellschaftlichen Mankos, das sich in ihr ausdrückte, durchaus bewusst – bewusster jedenfalls als viele Wortführer der Neuen Linken in Deutschland.

Eintrittskarte
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Archiv 2. Juni

Die sahen zwar, dass die popkulturelle Rebellion, die mit typischer Verspätung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auch Deutschland zu erreichen begann, durchaus radikal war, dass sie Bedürfnisse artikulierte, die mit der Vorstellung einer »formierten Gesellschaft« Erhard’scher Prägung und ihrer öffentlichen Ordnung ganz handgreiflich kollidierten, wie in den Straßenschlachten nach dem Stones-Konzert in der Waldbühne im September 1965 oder dem Auftritt von The Who im April 1967 in Ludwigshafen. Aber die Kritiker monierten, dass die neue Musik eben nicht den Kriterien der klassischen Agitationsmusik entsprach: Sie lud zum Konsum ein und sie entdisziplinierte, hintertrieb also den revolutionären Auftrag.

Der Konkret-Herausgeber und Ehemann Ulrike Meinhofs, Klaus-Rainer Röhl, mokierte sich beispielsweise darüber, dass ihre Hörer »bei den Worten Arbeiterklasse und Klassenkampf ihre Münder zu einem müden oder mitleidigen Grinsen verzogen«, während sie sich ansonsten »den ganzen Tag überlautstark aufgedrehter Beat-Musik« hingaben. Bernhard Blanke, seines Zeichens Geschäftsführer des Republikanischen Clubs in Berlin, der Keimzelle des SDS, bemerkte, dass die Revolution in der Popkultur zur Ware werde, was »Beat und Pop als die hohlen Kunstprodukte der Marketingabteilungen einer industrialisierten Öffentlichkeit« entlarve.

Marianne Faithfull

Street Fighting Man mit Sister Morphine: Mick Jagger und Marianne Faithfull

 

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Die Essener Songtage

Der Zusammenstoß zwischen der neuen Subkultur und der Neuen Linken war also programmiert – und erfolgte mit größtmöglichem medialen Echo während der Internationalen Essener Songtage vom 25. bis zum 29. September 1968. Die Songtage waren ein Versuch ehrgeiziger sozialdemokratischer Kulturpolitiker und eines Zirkels um den Musikjournalisten und späteren Krautrock-Impressario Rolf-Ulrich Kaiser, das US-amerikanische Monterrey-Festival unter bundesdeutschen Bedingungen nachzuahmen. Die Essener Songtage sollten einerseits Underground-Rockheroen aus Übersee wie den Fugs (die Band der Beatnik-Poeten Ed Sanders und Tuli Kupferberg) und vor allem den avantgardistischen Mothers of Invention Frank Zappas eine Bühne geben, andererseits diese Musiker aber in ein politisches Rahmenprogramm stecken, das von Liedermachern wie Franz Josef Degenhardt, Workshops und Diskussionen bestimmt war. Das Festival produzierte so einen Dauereklat zwischen Agitatoren, denen die Musik nur Mittel zum Zweck war, und Jugendlichen, denen die aufgenötigte Agitation den Genuss in Deutschland bislang unerhörter Musikspektakel versaute. Immer wieder mussten Konzerte wegen konsumkritisch inspirierter Störversuche abgebrochen werden, Keilereien brachen aus, die Stimmung war geladen. Wie sehr, lässt sich an einer Lautsprecherdurchsage von APO-Agitatoren gleich zu Beginn des Festivals ablesen, die die Besucher wie folgt ansprachen: »Ihr Arschlöcher merkt wohl gar nicht, dass hier gegen euch gesungen wird. Das ist doch sozialistische Onanie!«

Den im Herbst 1968 ausgebrochenen Konflikt zwischen Rockmusik und deutschem Linksradikalismus löste schließlich eine besondere Spielart des Rock, die man getrost zu den hiesigen musikalischen Sonderwegen rechnen kann: der sogenannte Polit-Rock.

Dieser heilige Eifer wirkte vor allem auf die Gäste aus Großbritannien und den USA befremdlich. Frank Zappa, dessen Auftritt die deutschen Newcomer-Bands tief beeindruckte, unter ihnen Amon Düül, Guru Guru und das zuvor kreuzbrave, DKP-orientierte Politkabarett Floh de Cologne, das in Essen den Jazz-Rock und die sexuelle Revolution entdeckte, wunderte sich öffentlich darüber, »dass die Deutschen offenbar lieber über Musik reden, als sie zu hören«. An Zappa schieden sich die Geister, schließlich war er nicht nur der ästhetisch radikalste Rockmusiker dieser Tage, sondern zugleich Bürgerschreck und bissiger Kritiker des subkulturellen Größenwahns und der Bigotterie in einem. Für deutsche Linksradikale, die, ihren Eltern darin ähnlich, die Welt vor dem imperialistischen angloamerikanischen Konsumterror retten wollten, war diese Haltung Zappas schwer erträglich.

Essener Songtage #
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Archiv 2. Juni

Mothers of Invention treffen auf Kommune 1 in Berlin

Mit wem er es zu tun hatte, erfuhren Zappa und die Mothers of Invention dann nachdrücklich am 16. Oktober 1968: Am Nachmittag vor einem Konzert in Berlin suchte eine Delegation der Kommune 1 die Musiker in ihrem Hotel auf, um sie dazu zu bringen, die am Abend erwarteten 8 000 Besucher aufzufordern, das Gefängnis in Moabit zu stürmen, wo unter anderem Fritz Teufel einsaß. Zappa lehnte mit der nachvollziehbaren Begründung ab, dass nach einer solchen Unternehmung wohl eher mehr und nicht weniger Leute im Gefängnis sitzen würden. Beim Auftakt des Konzerts im (1973 abgerissenen) Schöneberger Sportpalast, in dem Goebbels vor jubelndem Publikum den »totalen Krieg« verkündet hatte, skandierten Provo-Gruppen Slogans wie »Mothers of Reaction« oder »Revolution«. Sie bepöbelten das Publikum und forderten Zappa auf, die Konzertbesucher zum Sturm auf das alliierte Kontrollratsgebäude zu mobilisieren, das nur wenige Meter entfernt vom Sportpalast lag. Zappa lehnte unmissverständlich und mit überaus klaren Worten und Gesten ab, Eier und Gemüse flogen auf die Bühne, schließlich wurde die Bühne gestürmt und besetzt, das Konzert endete in komplettem Chaos.

Der 2016 entstandene Dokumentarfilm »Eat That Question« zeigt Filmaufnahmen von diesem desaströsen Abend und enthält auch den hellsichtigen Kommentar, den Zappa kurze Zeit nach dem Sportpalast-Abend in einem Interview gab: »Die deutsche Jugend hat sich nicht weit von ihren Vorgängern in kurzen Hosen entfernt. Die Jungs tragen zottlige Bärte und die Mädchen Perlenketten und lustige Klamotten. Aber sie sind Nazis wie ihre Väter und Mütter, sie verhalten sich wie Nazis. Das Problem ist, dass sie sich für eine neue Linke halten.« Einige der Provokateure dieses Abends fanden sich im Jahr darauf in palästinensischen Ausbildungslagern wieder und zettelten mit den dort erworbenen Kenntnissen wiederum ein Jahr später einen antiimperialistischen Kleinkrieg gegen die, wie die deutsche Guerilla sie einstufte, US-amerikanische Besatzungsmacht und ihre deutschen Satrapen an.

Den im Herbst 1968 ausgebrochenen Konflikt zwischen Rockmusik und deutschem Linksradikalismus löste schließlich eine besondere Spielart des Rock, die man getrost zu den hiesigen musikalischen Sonderwegen (wie eben auch den Schlager) rechnen kann: der sogenannte Polit-Rock.

Franz Josef Degenhardt

Unter Genossen: Hannes Wader (links) beim Bier mit Franz Josef Degenhardt

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Ohne Kommune 1 kein Herbert Grönemeyer, kein Popbeauftragter Sigmar Gabriel und keine Deutsch-Poeten

Rockmusik, die politisch engagiert war, gab es in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern freilich auch in anderen Ländern – aber eben keine, in der die Rockmusik (oder was man dafür in Deutschland hielt) nur das agitatorische Vehikel des politischen Engagements gewesen wäre. Wenige dieser Bands, die nun begannen, auf Deutsch zu Rockmusik zu singen, schafften es, neben Gymnasiastenlyrik und Parolendrescherei auch das zu innervieren, was Rockmusik einst auszeichnete: nämlich Alltagserfahrung ästhetisch zu bearbeiten. Noch am nächsten kam deutschsprachige Rockmusik dem wohl in den besseren Songs von Ton Steine Scherben oder dem schwarzen Humor des frühen Wolfgang Ambros. Bei den meisten anderen blieb die Verachtung der Beatmusik um ihrer selbst willen als hartnäckiger Unterton erhalten. Die Berliner Band Hanuman beispielsweise, die aus der noch Englisch singenden Hardrock-Combo Murphy Blend hervorgegangen war und zu den ersten Gruppen gehörte, die in die Muttersprache wechselten, machte in ihrem Song »Lied des Teufels« folgenden bemerkenswerten Widerspruch zwischen Denken und Hören aus: »Und der Teufel,/er singt:/Wer die Opfer kennt – lacht ihn aus!/Wer die Henker nennt – glaubt ihm nicht!/Wer beim Weinen denkt – schreibt ihn krank!/Lullt ihn ein mit Beat-Musik!/Denn Musik befreit vom Denken/vom Denken.«

Von der Revolution sprach bekanntlich schon bald keiner mehr, auch die Rockmusik der Sechziger alterte rasch im Verlauf des Folgejahrzehnts. Immergrün hingegen blieb die moralisch selbstzufriedene und bei aller vordergündigen Politprovokation zu Entscheidungspathos und Volkserziehung neigende Grundhaltung deutschsprachiger Rock- und Popmusik, an der auch der Punk nichts ändern sollte (von ein paar hübschen Sauereien, wie sie beispielsweise die Frankfurter Straßenjungs zu Gehör brachten, abgesehen). Und deshalb ist die gängige Lesart, die das Jahr 1968 als Geburtsstunde einer eigenständigen deutschen Popmusik feiert, durchaus schlüssig. Man könnte auch sagen: Ohne Kommune 1 kein Herbert Grönemeyer, kein Popbeauftragter Sigmar Gabriel und keine sogenannten Deutsch-Poeten. Dass die Welt darauf gut hätte verzichten können, steht auf einem anderen Blatt.