In Peking werden Menschen aus informellen Siedlungen vertrieben

Urbanisierung ohne Arme

Seite 2 – Die Kampagne wirkt sich auch auf den Niedriglohnsektor aus.

In den sozialen Medien bemängeln Angehörige der Mittelschicht, dass Lieferdienste nicht mehr funktionierten. In China ist der digitale Plattformkapitalismus besonders entwickelt. Fast alles kann per App bestellt und bargeldlos mit dem Smartphone bezahlt werden. Die ­Online-Plattform Alibaba, Paketdienste sowie große Essenlieferservices richten Unterkünfte für ihre Dienstboten ein, die obdachlos geworden sind. ­Offensichtlich zahlen die Plattformen Löhne, die zu niedrig sind, um auf dem regulären Markt ein Zimmer zu mieten.

Am 27. November reagierte der Sekretär der Kommunistischen Partei ­Pekings, Cai Qi, auf die Kritik. Er mahnte die Behörden, nicht übereilt vor­zugehen und den Menschen mehr Zeit zum Auszug zu lassen. Auch der Bürgermeister traf sich medienwirksam mit Betroffenen und drückte sein ­Mitgefühl aus. Die Kampagne als solche wird jedoch nicht in Frage gestellt. In den offiziellen Medien überschlagen sich Horrormeldungen über Sicherheitsrisiken in informellen Siedlungen und Wohnungen sowie Erfolgsmeldungen über deren Beseitigung.

Es geht nicht nur um Baumängel, sondern auch um die unsachgemäße Lagerung von Chemikalien. Die Behörden be­tonen, dass es ihnen nur um die Sicherheit aller Bürger gehe. Die Bewohner könnten die Gefahr selbst oft nicht realistisch einschätzen. In sozialen Medien wie Wechat wird der Begriff »Bevölkerung am unteren Ende« zensiert. Die Kommunistische Partei kann den Vorwurf, die Armen vertreiben zu wollen, nicht auf sich sitzen lassen.

 

Bis 2020 will China ­informelle Siedlungen aus den Städten entfernen

Dass in Peking informelle Siedlungen abgerissen werden, ist nichts Neues. Seit den Neunzigern entstanden immer wieder riesige Dörfer innerhalb der Stadt, die erst geduldet und dann beseitigt wurden. In der Anfangsphase blieben die Zuwanderer aus einer Provinzen jeweils unter sich. Sie spezialisierten sich in Regel auf den Verkauf bestimmter Waren oder Dienstleistungen. Im berühmt-berüchtigten Dorf Zhejiang lebten zeitweise über 100 000 Menschen und vertrieben billige Textilien aus der gleichnamigen Provinz.

Städtischer Grund ist in China Staatseigentum. Die informellen Siedlungen entstehen häufig in Randgebieten, wo der Boden noch im Kollektivbesitz von Dörfern ist, wie auf dem Land üblich. Die Dorfregierungen machen mit der Verpachtung von Land und der Vermietung von Wohnungen ein gutes Geschäft. Ärmere Migranten können sich die Mieten leisten und die Stadtregierung muss keine Wohnungen für sie bauen. Allerdings werden wegen der hohen Immobilienpreise auch die Randgebiete von großen Investoren begehrt. Die »Dörfer in der Stadt« widersprechen außerdem dem Ideal der Regierung von der modernen Stadt.

Das »Nationale Programm für neuartige Urbanisierung« der Zentral­regierung für den Zeitraum von 2014 bis 2020 sieht die Entfernung von ­informellen Siedlungen aus den Städten vor. Außerdem soll der Markt für Bauland so vereinheitlicht werden, dass es innerhalb der Städte kein Land in Kollektivbesitz mehr gibt. Die laut diesem Plan landesweit 100 Millionen neuen Stadtbewohnern sollen Zugang zu subventioniertem Wohnraum und dem städtischen Sozialsystem erhalten.

Die gegenwärtige Kampagne in Peking zeigt jedoch, dass die Realität ­anders aussieht. Zugezogene vom Land können jederzeit vertrieben werden. Wie sollen jedoch Städte funktionieren, in denen sich nur Reiche und die obere Mittelschicht Wohnungen leisten können? Da die Regierung um Peking keine Mauer bauen kann, ist zu erwarten, dass viele Vertriebene zurückkehren. Solange die Löhne zum Leben im offi­ziellen Peking nicht ausreichen, werden wieder neue informelle Siedlungen entstehen, allerdings noch weiter vom Zentrum entfernt.