In Peking werden Menschen aus informellen Siedlungen vertrieben

Urbanisierung ohne Arme

In der chinesischen Hauptstadt Peking werden informelle Siedlungen zerstört. Das rabiate Vorgehen der Stadtregierung wird in sozialen Medien kritisiert. Es gibt spontane Demonstrationen gegen die Vertreibung von Zehntausenden.

Unter dem Suchbegriff »Bevölkerung am unteren Ende« (diduan renkou) finden sich auf der Website der Stadt­regierung Pekings keine Einträge mehr. Beamte bestreiten sogar, dass dieser Begriff von offizieller Seite je benutzt wurde. Gemeint sind damit Menschen, die prekär bei Zulieferdiensten arbeiten, kleine Läden betreiben oder in Hinterhoffabriken Billigwaren herstellen. Da sie sich die auf dem offiziellen Wohnungsmarkt üblichen Mieten nicht leisten können, wohnen sie in informellen Siedlungen oder Kellerwohnungen. Sie kommen in der Regel vom Land und haben keinen langfristigen legalen Aufenthaltsstatus in den Städten. Menschen, die auf dem Land gemeldet sind, müssen in China eine Genehmigung beantragen, um in Städten zu ­arbeiten. Sie sind dort außerdem von Sozialleistungen ausgeschlossen und haben keinen Zugang zum städtischen Bildungssystem.

Am 18. November kamen bei einem Feuer in einer Kellerwohnung in Peking 19 Menschen ums Leben. Daraufhin initiierte die Stadtregierung eine 40tägige Kampagne zur, wie es hieß, Beseitigung von Gefahrenherden in Wohnsiedlungen und Produktionsstätten. Informelle Siedlungen werden seither zerstört. Nach inoffiziellen Schätzungen wurden über 100 000 vom Land Zugewanderte obdachlos.

 

Bürgerrechte außer Kraft gesetzt

Kritiker werfen der Regierung vor, mit ihrer Kampagne die »Bevölkerung am unteren Ende« aus der Hauptstadt vertreiben zu wollen. Tatsächlich wurde der Begriff in offiziellen Dokumenten der Stadtregierung seit einigen Jahren verwendet. Als Ziele formulieren die Behörden die Verhinderung des Zuzugs und eine räumliche Konzentration ­dieser Menschen. Die Bevölkerung der Hauptstadt wird auf etwa 22 Millionen geschätzt.

Darunter sind etwa acht Millionen aus anderen Provinzen Zugezogene. Die Gesamtbevölkerung Pekings soll Regierungs­plänen zufolge 23 Millionen bis zum Jahr 2020 nicht überschreiten. Die chinesische Regierung fördert zwar eine beschleunigte Urbanisierung, diese soll aber vor allem in den kleineren und mittleren Städten stattfinden.

Zu Beginn der Kampagne bekamen die Bewohner von Gebäuden und ­informellen Siedlungen, die als Sicherheitsrisiko eingestuft wurden, eine Frist von 24 Stunden, um auszuziehen. Danach rückten sofort Bulldozer an. In einigen Fällen stellten örtliche Behörden den Bewohnern Strom und Wasser ab. Alternative Unterkünfte stellt die Stadtregierung selbst bei winterlichen Minusgraden nicht zur Verfügung. Viele der Betroffenen leben schon seit Jahren in Peking und wollen nicht in die Dörfer zu ihren Verwandten zurück. Am 25. November wandten sich Intellektuelle in einem offenen Brief an die Zentralregierung und kritisierten die Kampagne als Verletzung des in der Verfassung garantierten Schutzes des privaten Eigentums sowie der Gewerbefreiheit. Statt mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen Sicherheitsrisiken vorzugehen, setze die Kampagne Bürgerrechte außer Kraft. Die Unterzeichner forderten eine Entschuldigung der Stadtregierung sowie Entschädigungszahlungen an die Betroffenen. In einigen informellen Siedlungen kam es zu spontanen Demonstrationen gegen den Abriss. Die Polizei unterband jedoch eine Ausweitung der Proteste.

Die Kampagne wirkt sich auch auf den Niedriglohnsektor aus.

In den sozialen Medien bemängeln Angehörige der Mittelschicht, dass Lieferdienste nicht mehr funktionierten. In China ist der digitale Plattformkapitalismus besonders entwickelt. Fast alles kann per App bestellt und bargeldlos mit dem Smartphone bezahlt werden. Die ­Online-Plattform Alibaba, Paketdienste sowie große Essenlieferservices richten Unterkünfte für ihre Dienstboten ein, die obdachlos geworden sind. ­Offensichtlich zahlen die Plattformen Löhne, die zu niedrig sind, um auf dem regulären Markt ein Zimmer zu mieten.

Am 27. November reagierte der Sekretär der Kommunistischen Partei ­Pekings, Cai Qi, auf die Kritik. Er mahnte die Behörden, nicht übereilt vor­zugehen und den Menschen mehr Zeit zum Auszug zu lassen. Auch der Bürgermeister traf sich medienwirksam mit Betroffenen und drückte sein ­Mitgefühl aus. Die Kampagne als solche wird jedoch nicht in Frage gestellt. In den offiziellen Medien überschlagen sich Horrormeldungen über Sicherheitsrisiken in informellen Siedlungen und Wohnungen sowie Erfolgsmeldungen über deren Beseitigung.

Es geht nicht nur um Baumängel, sondern auch um die unsachgemäße Lagerung von Chemikalien. Die Behörden be­tonen, dass es ihnen nur um die Sicherheit aller Bürger gehe. Die Bewohner könnten die Gefahr selbst oft nicht realistisch einschätzen. In sozialen Medien wie Wechat wird der Begriff »Bevölkerung am unteren Ende« zensiert. Die Kommunistische Partei kann den Vorwurf, die Armen vertreiben zu wollen, nicht auf sich sitzen lassen.

 

Bis 2020 will China ­informelle Siedlungen aus den Städten entfernen

Dass in Peking informelle Siedlungen abgerissen werden, ist nichts Neues. Seit den Neunzigern entstanden immer wieder riesige Dörfer innerhalb der Stadt, die erst geduldet und dann beseitigt wurden. In der Anfangsphase blieben die Zuwanderer aus einer Provinzen jeweils unter sich. Sie spezialisierten sich in Regel auf den Verkauf bestimmter Waren oder Dienstleistungen. Im berühmt-berüchtigten Dorf Zhejiang lebten zeitweise über 100 000 Menschen und vertrieben billige Textilien aus der gleichnamigen Provinz.

Städtischer Grund ist in China Staatseigentum. Die informellen Siedlungen entstehen häufig in Randgebieten, wo der Boden noch im Kollektivbesitz von Dörfern ist, wie auf dem Land üblich. Die Dorfregierungen machen mit der Verpachtung von Land und der Vermietung von Wohnungen ein gutes Geschäft. Ärmere Migranten können sich die Mieten leisten und die Stadtregierung muss keine Wohnungen für sie bauen. Allerdings werden wegen der hohen Immobilienpreise auch die Randgebiete von großen Investoren begehrt. Die »Dörfer in der Stadt« widersprechen außerdem dem Ideal der Regierung von der modernen Stadt.

Das »Nationale Programm für neuartige Urbanisierung« der Zentral­regierung für den Zeitraum von 2014 bis 2020 sieht die Entfernung von ­informellen Siedlungen aus den Städten vor. Außerdem soll der Markt für Bauland so vereinheitlicht werden, dass es innerhalb der Städte kein Land in Kollektivbesitz mehr gibt. Die laut diesem Plan landesweit 100 Millionen neuen Stadtbewohnern sollen Zugang zu subventioniertem Wohnraum und dem städtischen Sozialsystem erhalten.

Die gegenwärtige Kampagne in Peking zeigt jedoch, dass die Realität ­anders aussieht. Zugezogene vom Land können jederzeit vertrieben werden. Wie sollen jedoch Städte funktionieren, in denen sich nur Reiche und die obere Mittelschicht Wohnungen leisten können? Da die Regierung um Peking keine Mauer bauen kann, ist zu erwarten, dass viele Vertriebene zurückkehren. Solange die Löhne zum Leben im offi­ziellen Peking nicht ausreichen, werden wieder neue informelle Siedlungen entstehen, allerdings noch weiter vom Zentrum entfernt.