Der türkische Präsident setzt seinen autoritären Kurs mit Dekreten fort

Mit Knüppel auf dem Dach

Seite 2 – Wie in Guantánamo

 

So monierte die Fraktion der Republikanischen Volkspartei (CHP) am 26. Dezember, dass künftig mutmaßliche Straftäter aus dem Umfeld der Putschisten im Gefängnis beigefarbene Overalls, mutmaßliche Mitglieder anderer »Terrororganisationen« graue tragen sollten. Diese Uniformierung wurde zunächst auf Agitationsveranstaltungen der islamisch-konservativen Bewegung nach der Niederschlagung des Putschversuchs 2016 propagiert. Auf diesen hatten Aktivisten orangefarbene Overalls, wie sie die Gefangenen in Guantánamo tragen mussten, als Einheitskleidung für Putschisten gefordert – sowie deren Hinrichtung in solcher Kleidung. Ganz abgesehen von den erheblichen Kosten, die der Staatskasse im Fall der Neueinkleidung Tausender politischer Gefangener drohen, ist diese bislang noch nicht eingeführte Uniformierung von Häftlingen sicherlich deren geringstes Problem.

Die Polizei wurde autorisiert, bis zu 7000 Privatpersonen als Aufpasser in Stadtvierteln und auf Märkten einzusetzen.

Der türkische Dienst der BBC veröffentlichte Ende Dezember eine Liste der bislang erlassenen 18 Dekrete. Demzufolge wurden 28 284 Beamte und ­Angestellte des Staats entlassen, 1554 von ihnen haben ihre Stellen zurück­erhalten. Die Entlassenen verloren ihre berufliche Absicherung, viele ihre Dienstwohnung, und wurden lebenslang aus dem Staatsdienst ausgeschlossen. Hunderte Publikationsorgane, Stiftungen, Vereine und Privat­schulen wurden geschlossen. Dekrete müssen wegen ihres besonderen rechtlichen Charakters nicht detailliert begründet werden, was der Willkür Tür und Tor öffnet. So kann mittlerweile Staatsbürgern, gegen die ermittelt wird und die innerhalb von drei Monaten nicht von Auslandsaufenthalten zurückkehren, die Staatsbürgerschaft entzogen werden. Die Befugnisse der Militärbefehlshaber wurden begrenzt, die des Verteidigungsministeriums ­erweitert. Zukünftig dürfen auch Grundschulabgänger Berufssoldaten werden. Die Polizei wurde autorisiert, bis zu 7000 Privatpersonen als Aufpasser in Stadtvierteln und auf Märkten einzusetzen. Bislang sind diese Wächter noch nicht im Dienst, Oppositionelle befürchten jedoch, dass sich semioffizielle Moralapostel im zivilen Leben etablieren könnten. Solche Wächter in Stadtvierteln gab es bereits nach dem Militärputsch von 1980, sie sind also nichts völlig Neues, doch Erdoğans Dekret­praxis lässt Schlimmeres als damals befürchten.

Der militärische Geheimdienst MIT wurde direkt dem Präsidenten unterstellt und dazu autorisiert, alle möglichen Ermittlungen in den Kreisen von Mitarbeitern der Ministerien und Angehörigen des Militärs durchzuführen. Abgeordnete genießen keine Immunität mehr, solange der Ausnahmezustand in Kraft ist. Damit übt der Präsident eine weitgehende Kontrolle über Exekutive, Legislative und Judikative aus.

Kurz vor Neujahr meldete sich der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül zu Wort und kritisierte, dass die Dekretpolitik zu weit gehe. Es kursiert das Gerücht, Gül werde als Gegenkandidat zu Erdoğan im Wahljahr 2019 antreten. Im kommenden Jahr werden in der Türkei neue Lokalpolitiker, das Parlament und der mit besonderen Vollmachten ausgestattete Präsident gewählt. Der Kolumnist Dinçer Demirkent veröffentlichte am 4. Januar dazu ­einen treffenden Kommentar auf der Online-Plattform »Gazete Duvar«. Er warnte vor den Hoffnungen, die Güls zaghafte Einsprüche möglicherweise wecken konnten, und erinnerte daran, dass dieser ein alter Weggefährte Erdoğans und Mit­begründer der »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) ist. Für Erdo­ğan zähle nur die unter seiner Führung geeinte Partei, die gegen viele Feinde zu kämpfen habe, und Gül sei nicht so dumm, sich auf Feindesseite zu stellen. Dem neoosmanischen Despotismus erwächst bislang keine wirkungsvolle Opposition.