Im Tel Aviver Viertel Neve Sha‘anan hetzen einige Anwohner gegen afrikanische Flüchtlinge

Stress im Hinterhof

Seite 2 – Von Abschiebung bedroht
Reportage Von

Freundschaftliche Zusammenkünfte wie dieses Kerzenanzünden sind keine Selbstverständlichkeit im Viertel. Trotz räumlicher Enge ist Neve Scha’anan ein sozial stark fragmentierter Raum, der die Absorption von Israels zahlreichen Migrationsbewegungen widerspiegelt. Obwohl im Zuge der steigenden Mietpreise in den vergangenen fünf Jahren immer mehr Studierende und Familien aus der Mittelschicht in die südlichen Viertel zogen, ist der Stadtteil noch sehr heterogen. Mit Beginn der ersten Intifada 1987 begannen nach und nach in ganz Israel Arbeitsmigranten aus Westafrika, Osteuropa und Asien palästinensische Tagelöhner zu ersetzen. Angezogen von billigen Mietpreisen siedelten sich in den neunziger Jahren Tausende von ihnen in Süd-Tel-Aviv an. Die Gegend begann, sich kulturell zu verändern. Beinahe zur gleichen Zeit kamen jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion hinzu. Die meisten von ihnen verließen die Gegend jedoch, sobald sie es sich leisten konnten. Der Rest blieb im verarmten Süden der Stadt, der nach und nach von afrikanischen Flüchtlingen besiedelt wurde.

 

Tel Aviv Neve Sha’anan 2

Leben im Hinterhof. Straßenszene in Neve Sha’anan

Bild:
Marina Klimchuk

 

Die 23jährige Ali kam vor fünf Jahren auf dem Landweg aus Eritrea nach Israel. Heutzutage arbeitet sie als Putzkraft in einem Restaurant und betreibt mit ihrem Mann einen kleinen Textil­laden in Neve Sha’anan. »Meine Tochter ist ein Jahr alt. Ich kann sie nicht zu meiner Arbeit mitnehmen, weil überall benutzte Spritzen auf dem Boden rumliegen. Viele Israelis kommen her und kaufen das Zeug, das hier heimlich herumgereicht wird. Ich sehe immer einen reichen Typen in einem teuren Wagen, der hier einkauft. Aber ich habe keine Wahl, dieser Laden ist alles, was ich besitze. Meine Eltern sind in Eritrea und ich muss ihnen ständig Geld schicken. Mein Bruder und meine Schwester sind nach Libyen und haben von dort aus versucht, nach Europa zu gelangen. Jetzt ist er in Holland und meine Schwester wurde erwischt, zurück nach Eritrea deportiert und verhaftet.«

Zur niedrigen Lebensqualität in Neve Sha’anan kommt die permanente Drohung der Abschiebung in ein afrikanisches Drittland. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat den protestierenden Bewohnern von Süd-Tel-Aviv versprochen, ihnen »ihre Stadt zurückzugeben«. Vergangene Woche hat das Kabinett einem Plan zugestimmt, der vorsieht, Zehntausende afrikanische Flüchtlinge abzuschieben oder zur »freiwillien« Ausreise zu bewegen. Wer dem bis Ende März nachkomme, soll der Immigrationsbehörde zufolge umgerechnet bis zu 2 900 Euro erhalten. Bereits zuvor hatte die israelische Regierung eine Vereinbarung mit Ruanda getroffen haben: Für jeden aufgenommenen Flüchtling wird Ruanda mit 5 000 US-Dollar belohnt. Die Alternative zur Ausreise ist, bis auf Weiteres in ­Israel eingesperrt zu werden. Frauen, Kinder sowie Folteropfer bleiben von diesem Verfahren vorerst verschont. Teklit Michael sieht die Situation nüchtern. »Ich denke, sie werden die Abschiebungen dieses Mal tatsächlich durchsetzen, immerhin versuchen sie das schon so lange. Ich werde das im Gefängnis hier aussitzen. Das ist für mich die sicherste Variante, denn in ­Afrika weißt du nie, was passieren kann.«

 

 Tel Aviv Neve Sha’anan 3

Exklusiver Chanukka-Umzug. Sheffi Paz (im blauen T-Shirt) und ihre Mitstreiter hetzen gegen afrikanische Flüchtlinge

Bild:
Leah Platkin

 

Dennoch begehrt

Bisher war die gängige Praxis der Regierung eine andere: Viele Afrikaner wurden unter dem Druck der Regierung vor die Wahl gestellt, entweder in das offene Männergefängnis Holot, abgelegen in der Wüste, oder zurück nach ­Afrika zu gehen. Holot gilt als offen, weil die Männer zwar dort übernachten müssen und nicht arbeiten dürfen, tagsüber aber »frei« sind. Viele beugten sich dem Druck und suchten in Ländern wie Uganda oder Ruanda Zuflucht oder wagten den gefährlichen Weg über Libyen nach Europa. Einige wenige schafften es in westliche Länder. 2012 sprachen offizielle Statistiken von über 60 000 Eritreern und Sudanesen im Land. Das entspricht einem Anteil von circa 0,5 Prozent der israelischen Be­völkerung. 2017 waren es weniger als 40 000. Im Zuge der Abschiebungen soll Holot endgültig geschlossen werden.

»Der Hass auf Flüchtlinge hat mit jedem Jahr, das ich in Israel bin, zugenommen.« Teklit Michael, Flüchtling aus Eritrea

Experten bewerten dieses Vorgehen der Regierung als extrem problematisch. Galia Sabar, Professorin für Afrikanistik und Migrationsforschung an der Universität Tel Aviv, erforschte die Lebenswege sogenannter »freiwilliger« Rückkehrer. Beinahe keiner von ihnen ist in Ruanda geblieben, um sich eine Existenz aufzubauen. Für die meisten war es nur eine Durchgangsstation auf einer riskanten Reise ins Ungewisse. »Israel ist an die UN-Flüchtlingskonvention gebunden und kann die Menschen nicht in ihre Herkunftsländer zurückschicken. Aber man nimmt an, man kann jeden Afrikaner einfach in ein afrika­nisches Land schicken. Dabei hat die Person dort keine Arbeit, kennt die Sprache nicht, hat kein soziales Auffangnetz oder ist in irgendeiner Weise willkommen«, äußerte sie sich vor kurzem gegenüber der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth.

»Uns und die Menschen in Neve Sha’anan, die uns hassen, verbindet in Wirklichkeit ein Feind. Das ist die Regierung, die für Gefängnisse und Abschiebungen Millionen ausgibt. Wenn der Regierung die jüdischen Bewohner wirklich am Herzen liegen würden, würde sie konstruktive Lösungen finden«, sagt Michael. In den vergangenen fünf Jahren sind die Mietpreise in Tel Aviv um 30 Prozent gestiegen. Sich eine Wohnung im Stadtzentrum oder im Norden der Stadt zu leisten, ist für viele utopisch. Mit dem Zuzug von neuen Bevölkerungsgruppen in den Süden der Stadt entstanden hier urbane Gartenprojekte und Koexistenz-Initiativen, es eröffneten Cafés mit linkspolitischer Orientierung. Aber in jüngster Zeit zieht selbst ein sozialer Brennpunkt wie Neve Sha’anan Immobilieninvestoren an. Überall werden moderne Wohngebäude und Wolkenkratzer gebaut. »In fünf Jahren wird das hier eine richtig gute Gegend sein«, ist Michael überzeugt. »Aber die Leute in Neve Sha’anan, die heute gegen Flüchtlinge auf die Straße gehen, verstehen nicht, dass hier kein Platz mehr für sie sein wird. Weil arme Leute nicht erwünscht sind, Israelis genauso wenig wie Flüchtlinge.«