Das Buch von Guillaume Paoli: »Die lange Nacht der ­Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur«

»Du hast keine Chance, aber nutze sie«

Der Philosoph Guillaume Paoli hat eine radikale Kritik an der postmodernen Kultur verfasst, die sich aber gen Ende des Buches als allzu defätistisch herausstellt.

Die Postmoderne hat weitreichende intellektuelle und moralische ­Folgen gezeitigt. Ihre Apologeten recken überall ihre Häupter. Mit absurden Treppenwitzen, wie etwa die konkreten Poesie unter Sexismus-Verdacht zu stellen –, der Verdacht der schlechten Lyrik wäre passender gewesen – dem Vorwurf kultureller Aneignung beim Tragen von Dreadlocks und identitätspolitischer Dogmatik im Allgemeinen bestimmen sie einen Gutteil der gesellschaftlichen Debatten. Echte Sprachverbote gibt es zwar (noch) nicht, aber eigentlich doch: Die Scheren im Kopf sind ­geschliffen, die Angst grassiert, in eine falsche Ecke gestellt zu werden oder unkorrekt zu erscheinen. Mancher fühlt sich seiner Worte beraubt, und das »gemeine Volk« schüttelt den Kopf, wenn es nicht sogar schon abgrundtiefen Hass auf die Diskursführer entwickelt hat.

Aber es scheint sich etwas zu bewegen: Dass überhaupt wieder ­kritisch über die Postmoderne geredet wird, könnte ein Zeichen dafür sein, dass diese Epoche jetzt historisch gesehen ihrem Ende nah ist.

Schon Bernd Stegemann hatte mit seinen polemischen Schriften »Lob des Realismus« und »Das Gespenst des Populismus« die postmodernen Zumutungen ideologiekritisch angegriffen und ihre – wenigstens – Mitschuld am Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus deutlich beleuchtet. Auch Hans-Christian Dany ging in seinem Buch »Morgen werde ich ­Idiot« ähnliche Wege.
Jetzt folgt Guillaume Paoli mit seinem Buch »Die lange Nacht der ­Metamorphose«. Präzise seziert er die Aporien der scheinbar un(an)-greifbaren postmodernen Theorie, markiert ihren neuzeitlichen Sophismus, der, gewappnet mit diskursanalytischem Instrumentarium, den Leuten stets ein X für ein U vorzumachen weiß. Paoli bedient sich dabei ­einer bewusst einfachen Beschreibungssprache, gereinigt von den ­Begriffsmonstern akademischer Theorieversessenheit. Dass er sich mit seinen auf dem Alltagsverstand ­fußenden Argumenten zwangsläufig postmodernistischer Kritik aussetzt, ist ihm klar – er liefert diese oft gleich selbst mit, was umso mehr den leerdrehenden Gebetsmühlen­charakter dieser wohlfeilen Meta­dialektik entlarvt. Seine Attacke auf die ­Gedankenkonstrukte, im postmodernen Jargon als »Narrative« bezeichnet, bezieht ihre Prämisse aus Pier Paolo Pasolinis Begriff der »anthropologischen Mutation«. Pasolini hatte diesen Terminus in seinen »Frei­beuterschriften« verwendet, um das Verschwinden tradierter Lebens- und Denkweisen unter dem Druck des Marktimperialismus der sechziger Jahre zu kennzeichnen. Seit den siebziger Jahren, so Paolis These, habe es erneut eine solche Transformation gegeben, diesmal unter ­kulturalistischen Vorzeichen. Als Ergebnis sei ein neuer common sense entstanden, der »aus einem Set von Meinungen, Geschmäckern, Korrektheiten und Verhaltensregeln, die nicht mehr hinterfragt werden« bestehe.

Paoli weist nicht ohne Süffisanz darauf hin, dass die postmoderne Identitätspolitik ihre Analogie im Identitätswahn der Rechtsradikalen findet.

Im Zuge neoliberalen Wirtschaftens sind diese zu einer »vergegenständlichten Ideologie« geronnen. Da jede ökonomische und gesellschaftliche Alternative im Orkus der Geschichte verschwunden ist und die aktuelle Gesellschaftsformation als einzige übrig geblieben ist, scheint es schlicht unvernünftig, ihr nicht willfährig zu folgen. Die vorgebliche Freiheit des Neoliberalismus aber ist Paoli zufolge nicht mehr »als die ­Abwesenheit von Hindernissen in einem Parcours, der von anderen vorbestimmt, ferngesteuert und überwacht wird«. Doch den handelnden Subjekten fällt dies nicht weiter auf, weil die postmoderne Theorie die ­realen Abhängigkeitsverhältnisse mit »einem kosmischen Nebel aus tausend flimmernden Denkpartikeln« verdeckt. In Wahrheit sei dieses »disparate Gewölk« nur eine zombie theory, die sich dennoch weltweit verbreitet habe: »Wie Feinstaub haben sich die Begriffe und Denkreflexe auf die gesellschaftliche Oberfläche gelegt.« Selbst die Rechte bedient sich ihrer mittlerweile mit großem Erfolg.

In der wirklichen Welt habe das eine »maximale Konfusion« ausgelöst – mit zahlreichen, sich teils ausschließenden Diskriminierungsfeldern, die es sämtlich zu beachten gilt (man denke nur an die erquicklichen Diskussionen in Monty Pythons »Das Leben des Brian«, wo das Problem schon sehr früh und sehr unterhaltsam dargestellt wurde). Paoli weist nicht ohne Süffisanz darauf hin, dass die postmoderne Identitäts­politik ihre Analogie im Identitätswahn der Rechtsradikalen findet.
Besonders gravierend an der postmodernen Praxis ist, dass die »Fragmentierung des sozialen Kollektivs in transitorische Identitäten« den ­Erfordernissen des neoliberalen Marketings perfekt zuarbeitet: »Während die Welt in tausend kleine periphere Domänen dekonstruiert worden ist, bleibt das große soziale Konstrukt des Kapitals im toten Winkel.«

 

Die literarische Moderne hat sich kaputtgesiegt

Paolis Denken ist zumeist erhellend, erfrischend und oft vergnüglich, bisweilen aber erscheint es als Rempelei um jeden Preis – etwa in Teilen seiner Ausführungen über die zeit­genössische Kultur. Zwar ist der Befund richtig, dass die beschriebenen Veränderungen sich auch in einem großen Teil des Kulturbetriebs durchgesetzt haben, aber Kunst, Literatur und Musik sind eben, gerade heutzutage, auch Felder, in denen der Postmodernismus kräftig angegangen wird.

Paolis Literaturkritik beispielsweise bleibt sehr an der Oberfläche und scheint einer ziemlich konservativen Ästhetik verpflichtet, dienen ihm doch Fjodor Dostojewski, Victor Hugo oder Thomas Mann als Gewährsmänner. Analog dazu heißt es für die Musik, seit Anton Webern und John Cage habe es nichts Innovatives mehr gegeben.

Die literarische Moderne, behauptet Paoli, habe sich kaputtgesiegt. Das ist schlicht zu negativ, denn heute entstehen durchaus noch innovative ästhetische Modelle, die indes gerade wegen der neoliberalen Zurichtung des Literaturmarktes oft eine Nischen­existenz führen müssen; experimentelle Lyrik beispielsweise, die Paoli gleich ganz außen vor lässt. ­­­Ob aktuelle »avantgardistische« Literatur eine Chance hat zu über­dauern, ist natürlich nicht klar – das war es aber bei Kurt Schwitters, ­Raoul Hausmann, selbst bei den von Paoli erwähnten Joyce und Kafka, auch nicht.

Nachdem Paoli die Postmoderne treffend kritisiert hat, bezeichnet er sie als eine historisch notwendige Entwicklung, zu der seine Intervention sich streng dialektisch als die »Negation der ­Negation« verhielte.

Für die Beschäftigung mit einem letztlich globalen Phänomen bleibt Paolis kulturkritische Argumentation im Übrigen zu stark auf Deutschland bezogen. In der restlichen Welt stellt sich die Lage häufig ganz anders dar. In den USA entsteht ununterbrochen formbewusste und gesellschaftlich engagierte Literatur, ebenso in osteuropäischen, asiatischen und afrikanischen Ländern.
Dass Paoli dann wiederum jenen, auch in Deutschland vorhandenen Kritikern der postmodernen self fiction einen »Vulgärmarxismus« ­unterstellt, zeugt zum einen von einer sehr selektiven Lektüre jener Texte, wie sie etwa im Umfeld der sogenannten Kessler-Debatte oder des Netzwerks »Richtige Literatur im Falschen« entstanden sind. Zum anderen wird man hier, wie auch an anderen Stellen im Buch, den Verdacht nicht los, es gehe Paoli ein wenig um das Alleinstellungsmerkmal, immer gegen alle zu sein, nur bloß mit niemanden gemeinsame Sache zu ­machen. Vorsätzlich stellt er sich abseits sämtlicher aktuellen Diskurse, um sie dann – wie ein Schlachtenmaler – aus einer für ihn sicheren ­Distanz kritisieren zu können. Das mag als methodische Linie funk­tionieren, taktisch aber geht es fehl. Es führt am Ende des Buches sogar zu einem Dilemma.

Nachdem Paoli die Postmoderne so treffend kritisiert hat, bezeichnet er sie als eine historisch notwendige Entwicklung, zu der seine Intervention sich streng dialektisch als die »Negation der ­Negation« verhielte. Dass dann guter Rat teuer ist bei der Frage, wie es konstruktiv weitergehen könne, nimmt nicht wunder. Ohnedies ist es immer der schwierigste Teil ­solcher Untersuchungen, am Ende irgendwelche Prognosen, Zukunftsaussichten oder gar Denk- und Handlungsweisungen zu formulieren.

Paoli versucht diese Schwierigkeit zu umschiffen, indem er den Globus als sowieso unrettbar verloren bezeichnet, was natürlich wenig tröstlich ist. Im Umkehrschluss könnte man dann sagen, wozu sich überhaupt noch mit Postmoderne, Neo­liberalismus und den damit verbundenen Ungerechtigkeiten herumquälen oder gar Bücher darüber schreiben, wenn es eh egal ist? Dann doch lieber Herbert Achternbusch: »Du hast keine Chance, aber nutze sie.«

 

Guillaume Paoli: Die lange Nacht der ­Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur. Matthes & Seitz, Berlin 2017, 220 Seiten, 20 Euro