Julia Schulze Wessel, Professorin für Politische Theorie, über Flüchtlinge und die Aktualität Hannah Arendts

»Grenzfiguren des Rechts«

Ein Gespräch über Flucht, Staatenlosigkeit, Exklusion und die Aktualität Hannah Arendts.
Interview Von

Angesichts der derzeitigen Krise der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik werden immer wieder Hannah Arendts Gedanken zu Flüchtlingen aufgegriffen. Inwiefern sind ihre Ideen heutzutage ­relevant?
Hannah Arendt war die politische Theoretikerin, die über Flucht und Staaten­losigkeit nicht als moralische und humanitäre, sondern als politische Frage nachgedacht hat. Sie hat die Flüchtlinge ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gestellt und herausgearbeitet, dass sie unmittelbares Produkt der damaligen Staatenwelt waren. Auf die heutige Zeit kann man Arendts ab den vierziger Jahren formulierte Gedanken natürlich nicht eins zu eins übertragen. Doch ein dezidiert politischer Blickwinkel, wie sie ihn einnimmt, wäre für die derzeitige Debatte zu Flucht und Migration sehr produktiv. Wenn es um die Ansprüche von Flüchtlingen gegenüber potentiellen Aufnahmegesellschaften geht, argumentieren viele lediglich moralisch oder humanitär – aber nicht politisch oder rechtlich.

Welche Bedeutung haben die Flüchtlinge für Arendts politische Theorie?
Bei den von ihr beschriebenen Flüchtlingen handelt es sich um die Millionen Staatenlosen, die durch die Gründungen neuer Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg in Europa entstanden. Sie waren Opfer eines ethnischen Nationalstaatsverständnisses, das die Verbindung zwischen Geburt und Staatsbürgerschaft zum Strukturmerkmal der neuen Ordnungen machte. Durch den Entzug der Staatsbürgerschaft wurden in diesen Staaten ­Menschen zu Staatenlosen und damit zu Flüchtlingen. Eine Unterscheidung zwischen beiden hat Arendt nicht vorgenommen, für sie war der Verlust der Staatsbürgerschaft gleichzusetzen mit Flucht.

»Die Staatenlosen haben nichts verbrochen, um aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.«

Die Staatenlosen nehmen eine besondere Stellung in Arendts Suche nach den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft ein: Sie sind negative Avantgardefiguren, die die Vernichtungs­lager ankündigen. Das heißt, die Flüchtlinge sind die Personen, an denen alle Rechte scheitern: das Staatsbürgerrecht, das Asylrecht, die Menschenrechte. Durch ihre Staatenlosigkeit standen die Flüchtlinge auf einmal also außerhalb jeglichen Rechts und es gab keine rechtliche, politische oder soziale Institution, die auf diesen Ausschluss ­hätten reagieren und ihnen Schutz und eine Bleibe hätten bieten können. Die Flüchtlinge waren, so Arendt, aus jedem Bezugssystem, aus jeder menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen.

Das heißt, die Möglichkeit zu handeln – und damit eine für Arendt zentrale Voraussetzung für Politik – wurde verbaut?
Die Flüchtlinge waren nicht wegen ­eigener, konkreter Handlungen aus der Menschengemeinschaft herausgeschleudert worden. Ihr einziger »Fehler« bestand darin, in das »falsche Volk« ­hineingeboren worden zu sein. Deshalb waren sie, so Arendt, nicht nur »weltlos«, sondern auch »absolut unschuldig«. Wichtige Grundlage hierfür war der Prozess der Ethnisierung der nationalen Zugehörigkeit in Europa ab dem 19. Jahrhundert, den Arendt ebenfalls beschreibt.
Auf den totalen Ausschluss der Staatenlosen kann es für Arendt keine Antwort in Form von Politik geben. Denn gegen einen biologistisch-antisemitischen Ausschluss wird Politik sinnlos. In Arendts Augen gab es keine Möglichkeit für die Jüdinnen und Juden, gegen diesen Ausschluss zu protestieren. Er wäre ungehört verhallt. Darin zeigen sich die Verbindungen der Flüchtlingsfigur zur Welt der totalen Herrschaft, für die Auschwitz steht. Die Staatenlosen haben nichts verbrochen, um aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Für die totale Herrschaft arbeitet Arendt die Schritte zur totalen Entrechtlichung und Entmenschlichung heraus, die mit der »Tötung der juristischen Person« als unabdingbare Voraussetzung für die Vernichtung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden beginnt.

Die Yeziden wurden vom »Islamischen Staat« (IS) wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit zu »Untermenschen« degradiert. Aus Syrien fliehen viele Menschen nicht unbedingt, weil sie irgendwann einmal gegen das dortige Regime opponiert hätten, sondern weil sie am »falschen Ort« leben und die Fassbomben des syrischen Regimes massenhaft den Tod bringen. Die Rohingya sind in Myanmar Staatenlose. Sehen Sie in Bezug auf die von Arendt beschriebene apolitische Form der Exklusion Parallelen zur heutigen Zeit?
Den klassischen Flüchtling beschreibt Arendt als Person, die politisch tätig war und genau deswegen verfolgt wird. Die »absolute Unschuld« der modernen staatenlosen Flüchtlinge zeigt sich darin, dass diese nicht aufgrund bestimmter Handlungen wie etwa politischer Opposition, sondern auf Basis ­ihrer ethnischen Zugehörigkeit anhand des Kriteriums der Geburt diskriminiert, ausgeschlossen oder auch getötet wurden. Da kann man mit Sicherheit Parallelen zur heutigen Zeit ziehen. Doch es sollte nicht vergessen werden, wie elementar Auschwitz für Arendts politisches Denken war. Man kann ihre Beschäftigung mit den Flüchtlingen nicht von dem »Verbrechen gegen die Menschheit« trennen.

Nach 1945 hat sich eine rechtliche Ordnung herausgebildet, die Flüchtlinge zumindest auf dem Papier schützt. Inwieweit berührt dies die Aktualität von Arendts Gedanken?
Arendt hat eine Situation beschrieben, in der Bürgerinnen und Bürger ihrer Rechte beraubt und damit rechtlos werden. Heutzutage werden Flüchtlingen ihre Rechte vorenthalten. Undokumentierte Migranten, unter denen sich ­viele Flüchtlinge befinden, werden systematisch daran gehindert, ihr Recht auf Asyl überhaupt wahrzunehmen, denn sie haben kaum Chancen, Europa zu erreichen.

Das internationale Rechtsgefüge ist zwar noch intakt, aber die Rechte ­werden nicht durchgesetzt, nicht angewandt und laufend verletzt. Zudem werden durch die europäische Migrationspolitik in anderen Ländern Bedingungen geschaffen, die Flüchtlingsrechte immer prekärer machen. Hier sind vor allem die Lager entlang der Migrations­routen hervorzuheben. Sie gehören offenbar zur »Standardlösung« für unerwünschte Flucht und Migration. In diesen Entrechtungsprozessen, die in den Lagern stattfinden, können vielleicht noch die stärksten Parallelen zu Arendt ausgemacht werden, da sie solche Lager fundamental kritisiert hat. Allerdings gibt es auch durch die internationalen Regelungen gewichtige Unterschiede, so dass die damalige ­Situation nicht einfach auf die Gegenwart zu übertragen ist.

Denn nach 1945 ist ein Recht entstanden, das die staatenlosen Flüchtlinge, die Arendt beschreibt, gar nicht kannten. Durch bestimmte völkerrechtliche ­Abmachungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention sind die Flüchtlinge zu Rechtssubjekten geworden. Angesichts der oftmals verzweifelten, tödlichen und gewaltvollen Realität mag das wie ein marginaler Unterschied wirken, doch für Arendt wäre er einer ums Ganze gewesen: weil dadurch die Möglichkeit besteht, zu widerstehen, durchzukommen und gerettet zu werden. Die Möglichkeit der Einklagbarkeit von Rechten, des Protests und der Rettung gehören heutzutage ebenfalls zu Flucht und Zwangsmigration. Das Neuartige und Skandalöse an der totalen Herrschaft war für Arendt, dass es diese Auswege gerade nicht gegeben hat.

In Ihren Publikationen bezeichnen Sie die undokumentierten Migranten als Grenzfiguren. Was meinen Sie damit?
Mit dem Schengener Abkommen hat sich ein Raum entwickelt, in dem an ­jedem Ort und durch verschiedene ­Organe Grenzkontrollen durchgeführt werden können. Dadurch bevölkern die undokumentierten Migranten diesen Grenzraum. Das zeigt sich ebenfalls im außereuropäischen Raum, etwa durch die Rücknahmeabkommen und die Zusammenarbeit mit afrikanischen und asiatischen Ländern, also in der Exterritorialisierung und Exter­nalisierung des Grenzregimes. Zudem ­befinden sich die undokumentierten ­Migranten in diesem Grenzraum ab dem Moment ihres Aufbruchs. Demnach sind sie auch Grenzgänger. Der Grenzraum bewegt sich mit den undokumentierten Migranten mit.

Darüber hinaus können die undokumentierten Migranten als Grenzfiguren des Rechts begriffen werden. Denn an ihnen kann gezeigt werden, wie grundlegende Rechte ausgehöhlt werden. Das verweist, wie schon bei Hannah Arendt, auf die politische Ordnung. Zuletzt sind die undokumentierten ­Migranten, die an der Grenze zurückgewiesen oder im Lager festgehalten werden, nicht nur Opfer staatlicher Repression. Vielmehr gestalten sie das Grenzgeschehen aktiv mit, was sich unter anderem darin zeigt, dass die Grenzkontrollen immer wieder auf ihre Bewegungen reagieren, ja versucht wird, diese in Form von Berechnungen und Voraussagen zu antizipieren. Mit dem Begriff der Grenzfigur will ich vor allem die Ambivalenz derzeitiger Flüchtlingsfiguren deutlich machen. Sie sind nicht nur Opfer repressiver ­Regime, sondern immer auch Akteure, die die bestehende Ordnung herausfordern können.

Ist die Ausblendung von Handlungsmacht ein Manko eines Großteils der politischen Theorie?
In vielen Demokratietheorien wie auch in der akademischen Forschung und in der öffentlichen Wahrnehmung gibt es diese Form von Viktimisierung. Das liegt daran, dass traditionell bestimmte Figuren wie der Staatsbürger oder Orte wie die Öffentlichkeit als institutionalisierter Ausdruck der Souve­ränität des Volkes gelten. Flüchtlinge oder auch Sklaven und Angehörige der natives gelten dabei als defizitäre Gegenfiguren. Mit den Ansätzen von Jacques Rancière oder Engin Isin, die inzwischen stark rezipiert werden, wird jedoch der Akzent verschoben. Rancière versteht Politik als Bruch mit der etablierten Ordnung. Isin wiederum denkt Bürgerschaft – oder besser: ­citizenship – als Partizipation am politischen Prozess und unabhängig vom konkreten rechtlichen Status. Er macht das Recht stark, Rechte zu fordern. ­Insofern stellen diese Ansätze Errungenschaften dar. Indem sie zumindest die Möglichkeit von agency, Handlungsmacht, in den Blick bekommen, ­gehen sie produktiv über Arendts Gedanken hinaus.
Gleichzeitig führt diese Akzentverschiebung nicht selten dazu, dass Widerständigkeit in Flüchtlinge hineinpro­jiziert wird. Sie werden dann zu einer neuen revolutionären linken Hoffnung – obwohl sie politisch, sozial und kulturell genauso heterogen sind wie die Aufnahmegesellschaft. Dazu kommt, dass Flüchtlinge extremer Repression ausgesetzt sind, was der Möglichkeit, politisch zu handeln, enge Grenzen setzt. Dennoch fordern die Flüchtlinge national eingehegte Demokratien ­heraus. Als diejenigen, die nicht dazugehören, stellen sie die Frage nach der Legitimation von Grenzziehungen sowohl in territorialer als auch in rechtlicher Hinsicht: Warum sollen wir nicht auch dazugehören? Auch wenn Flüchtlinge diese Gedanken selbst nicht haben – die Figur des Flüchtlings verweist über das hinaus, was ist.

 

Julia Schulze Wessel vertritt zurzeit die Professur für ­Politische Theorie an der Universität Leipzig. Zuvor ­studierte sie unter anderem Sozialwissenschaften in Olden­burg und beteiligte sich dort am Aufbau des Hannah-­Arendt-Archivs. 2014 habilitierte sie zur Politischen Theorie des Flüchtlings. 2017 veröffentlichte sie im Verlag Transcript das Buch »Grenzfiguren – Zur politischen Theorie des Flüchtlings«.