Auch in Marokko und Algerien wächst der gesellschaftliche Unmut

Zoff im Maghreb

In Marokko sorgen Reformpläne für das öffentliche Bildungssystem für Proteste, in Algerien finden seit zwei Monaten Streiks in Krankenhäusern statt.

In Nordafrika ist die soziale Situation derzeit nicht allein in Tunesien angespannt. Auch wenn Marokko und Algerien nicht so stark wie Tunesien von den Umwälzungen betroffen waren, die sich gerade zum siebten Mal jähren, so waren doch auch diese Länder damals Schauplatz gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.
In Algerien gab es in der zweiten Januarwoche 2011 heftige Riots wegen einer Preiserhöhung für Güter des Grundbedarfs. Nach deren Rücknahme endeten die Unruhen jedoch und Versuche, die Proteste zu politisieren, blieben ­erfolglos.

Ab Februar 2011 fanden auch in Marokko Massenproteste statt, dabei wurden vor allem demokratische Reformen gefordert. Diese »Bewegung des 20. Februar« führte zu einer neuen, ­weniger autoritären Verfassung, die am 1. Juli jenes Jahres per Referendum ­angenommen wurde, jedoch nicht zum Regimewechsel. Die Monarchie blieb intakt, auf parlamentarischer Ebene wurden vormalige Oppositionsparteien in die Regierungsbildung einbezogen. Die wahre Macht blieb beim Königshaus, das mit seinen Investmentfonds und Beteiligungen auch enormen wirtschaftlichen Einfluss besitzt.

Seit gut einem halben Jahr regiert eine sehr heterogene Sechsparteienkoalition Marokko. Die stärkste beteiligte Partei ist die islamistische »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (PJD), die tief gespalten ist. Die Anhänger des von 2011 bis 2016 regierenden Ministerpräsidenten des PJD, Abdelilah Benki­rane, trachten danach, den wesentlich moderateren derzeitigen Regierungschef und »Parteifreund« Saad Eddine al-Othmani zu stürzen.

Vor allem das ­öffentliche Bildungswesen wird von Konfliktenerschüttert. Für den 14. Feb­ruar ruft unter anderem die Gewerkschaftsvereinigung Confédération ­démocratique du travail (CDT) die Beschäftigten zu einem Streik auf. Die CDT ist einer der bedeutenderen gewerkschaftlichen Dachverbände im Land. Sie stand historisch der Sozialdemokratie in Gestalt der USFP – Regierungspartei von 1998 bis 2011 – nahe, unterstützt jedoch seit 2006 eine links­sozialdemokratische Abspaltung von ihr, die kleine Partei Congrès National ­Ittihadi.

Das öffentliche Bildungswesen ­Marokkos befindet sich im Umbruch. Grundsätzlich ist dies auch notwendig, denn im Schulsystem liegt vieles im Argen. 400 000 Kinder und Jugendliche brechen alljährlich die Schule vorzeitig ab. 2013 sagte der damalige Bildungsminister Rachid Belmokhtar, 76 Prozent der Schüler seien auch nach vier Jahren Grundschule noch Analphabeten. Die öffentlichen Schulen sind chronisch unterfinanziert und wurden lange Zeit vom Staat vernachlässigt. Unter König Hassan II. (1961 bis 1999) waren ein miserables Bildungsniveau erwünscht – da die Staatsspitze befürchtete, zu viel Bildung gefährde die Obrigkeitshörigkeit –, ebenso ein dumpfes Religionsverständnis. Der Monarch sollte unhinterfragt amir al-muminin (Befehlshaber der Gläubigen) bleiben.

Diesen Titel trägt auch Mohammed VI., doch gibt es nun andere Prioritäten. Marokko verzeichnet ein Wirtschaftswachstum von acht Prozent pro Jahr. Internationale Unternehmen siedeln dort Callcenter an, deren Mitarbeiter korrekt Französisch oder Englisch sprechen sollten, US-amerikanische und andere Banken nutzen Marokko als Tor zum afrikanischen Kontinent. Da braucht es ein zumindest leidlich ausgebildetes Personal.

Am 4. Januar verabschiedete das Kabinett einen Reformplan für das Bildungswesen, der bis 2030 gelten soll und derzeit noch vage gehalten ist. ­Zunächst verkündete die Regierung einige Punkte der Reform, die nicht im Zentrum der Umgestaltung stehen. Allmorgendlich sollen die Schüler die ­Nationalhymne singen, die Lehrer sollen stärker dazu angehalten sein, »korrekte Kleidung« zu tragen. Französisch soll ab der ersten und Englisch ab der siebten Klasse unterrichtet werden. Die Einschulung soll in Zukunft im Alter von fünf statt sechs Jahren erfolgen und es soll bessere Schulbücher geben.

Im Zentrum steht jedoch das Vorhaben, den zumindest theoretisch kostenlosen Schul- und Hochschulzugang – derzeit gibt es Einschreibgebühren – abzuschaffen, jedenfalls ab der Oberstufe. Das sickerte längst durch, auch wenn die Regierung öffentlich das Gegenteil versichert, wobei sie verdächtigerweise hinzufügt, für ärmere Familie solle es einen Ausgleichsfonds geben. Begründet wird das Vorhaben damit, es gelte, die Reichen zur Kasse zu bitten, die unverdienterweise durch einen kostenlosen Bildungszugang »von ­einer nationalen Solidarität profitieren«. Dieses Argument brachte bereits 2012 der damalige Hochschulminister Lahcen Daoudi (PJD) vor. Aber reiche Familien schicken ihre Sprösslinge ohnehin auf Privatschulen und -universitäten, um ihnen die Misere der öffentlichen ­Bildungsinstitutionen zu ersparen.

Tatsächlich geht es darum, die Mittelschicht zur Kasse zu bitten, während Schüler aus ärmeren Schichten von Abitur und Studium ausgeschlossen zu werden drohen. Zugleich sollen private Wirtschaftsinteressen durch public ­private partnerships im Bildungswesen stärkeren Einfluss erhalten, Schulen und Hochschulen sollen ihre eigenen Lehrkräfte mit befristeten privatrecht­lichen Arbeitsverträgen rekrutieren können.

Sozialpolitisch ebenso brisant ist der Plan der Regierung im Nachbarland ­Algerien, Krankenhausärzte künftig nicht mehr vom Militärdienst freizustellen. Diese Freistellung existiert seit den neunziger Jahren, als die Krankenhäuser zahlreiche Opfer des Bürgerkriegs und des islamistischen Terrorismus zu versorgen hatten. Dagegen richtet sich ein seit zwei Monaten anhaltender Streik des Krankenhauspersonals, das am 7. und 9. Januar auch auf die Straße ging. Dieser Protest mobilisiert zwar derzeit nur eine Berufsgruppe, wird jedoch in der Öffentlichkeit mit Aufmerksamkeit verfolgt – während das ganze Land sich fragt, was nach dem Ableben des dahinsiechenden, schwerkranken Präsidenten Abdelaziz Bouteflika geschehen wird.