Catherine Deneuve, »Me Too« und der Feminismus

Das Ende der Viktimisierung

Anfang Januar kritisierten etwa 100 Französinnen in einem offenen Brief die »Me Too«-Kampagne. Ihre Verteidigung der »Freiheit zu belästigen« ist antifeministisch.

Männer haben den Flirt ruiniert. Oder eher noch: Das lustvolle Spiel der ­Annäherung zwischen Männern und Frauen war aufgrund patriarchaler Vorstellungen von Sexualität schon immer problematisch. Nachdem die »Me Too«-Kampagne die Selbstverständlichkeit von strukturellem Sexismus in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt hat, sind wir im Jahr 2018 offenbar so weit, dass man über den Unterschied zwischen Flirt und sexueller Belästigung diskutieren muss.

Nun, wir leben in schwierigen Zeiten. Männer haben über Jahrtausende ihre Vormachtstellung gegenüber Frauen perpetuiert, ihre Männlichkeit durch die Abwertung des Nichtmännlichen etabliert, in dem kollektiven (Un-)Bewusstsein gelebt, dass sie ein quasi naturgegebenes Recht auf den weibliche Körper haben. Vielleicht sind sie deshalb also gar nicht in der Lage, dem Flirt zu frönen. Diese Annahme müsste zumindest jeder Person mit einem letzten Rest feministischen Bewusstseins oder nur zwischenmenschlicher Restvernunft naheliegend scheinen, wenn man sich ansieht, mit welcher Anspruchshaltung, Empathielosigkeit und auch Brutalität manche jene zwischenmenschliche Annäherung betreiben, die man gemeinhin unter »Flirt« versteht.

Die Verteidigung der »Freiheit zu belästigen«, wie die Autorinnen sie nennen, hat jedoch gar nichts mit der sexuellen Freiheit zweier gleichgestellter Individuen zu tun

Einer Gruppe französischer Künstlerinnen, Intellektuellen und Frauen des öffentlichen Lebens zufolge sollte man diese Männer jedoch gewähren lassen. So schlimm sei das nämlich gar nicht. Vergewaltigung, so räumen die Unterzeichnerinnen des unter anderem von der Autorin und Kunstkritikerin Catherine Millet, der Schriftstellerin und Schauspielerin Catherine Robbe-Grillet und der Journalistin Peggy Sastre verfassten offenen Briefs in Le Monde ein, sei zwar ein Verbrechen, aber die feministische Kritik gehe zu weit.

Die Autorinnen kritisieren, dass die »Me Too«-Kampagne zu einer »Hexenjagd« verkommen sei und dem Puritanismus sowie den Feinden der sexuellen Freiheit Tür und Tor öffne, während ganz normale Männer plötzlich für die unschuldige, wenn auch plumpe Anmache (drague) als Sexualstraftäter gebrandmarkt würden.

Männerhass und Verfolgungswahn seien nach Auffassung der Unterzeichnerinnen die Gründe, warum kaum ein Mann es sich mehr trauen dürfe, einen »Kuss zu stehlen« oder ein »Knie zu berühren«; dafür habe man sogar Männer entlassen, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Die Verteidigung der »Freiheit zu belästigen«, wie die Autorinnen sie nennen, hat jedoch gar nichts mit der sexuellen Freiheit zweier gleichgestellter Individuen zu tun, sie verteidigen vielmehr eine omnipräsente Bedrohung von Frauen durch Männer.

Eine alltägliche Situation in einer Straßenbahn: Eine Frau liest, ein junger Mann versucht, sie in ein Gespräch über das Buch zu verwickeln. Er fragt irgendwann nach der Telefonnummer, sie schlägt höflich aus. Der junge Mann akzeptiert das, ohne Aufhebens davon zu machen. Sie plaudern noch ein wenig, bis er aussteigt und sich freundlich verabschiedet. Wo ist die Pointe? Dass eine solche Begegnung die Ausnahme darstellt. Denn in der Regel wird bei der Frage nach der Telefonnummer ein »Nein« als Antwort nicht akzeptiert. Das verkennen Catherine Millet und ihre Koautorinnen, wenn sie Frauen raten, doch einfach »Nein« zu sagen.

Gekränkter männlicher Narzissmus kann eine destruktive Kraft sein, die Gewalt gegen Frauen, die sich ihm verweigern, ist der traurige Beweis. Mädchen wachsen in dem Bewusstsein auf, dass es wahrscheinlich sanktioniert wird, wenn sie den Typen im Club nicht küssen wollen oder sich dem Chef verweigern, der fragt, ob man nach Dienstschluss nicht noch etwas dableiben möchte.

Harvey Weinstein nutzte seine Machtstellung systematisch aus, um Schauspielerinnen zu sexuellen Handlungen zu nötigen. Diese konstante Bedrohung durch patriarchale Gewalt ist sowohl Ausdruck als auch Resultat einer geschlechtsspezifischen Machtdiskrepanz, in der Männer von der patriarchalen Unterdrückung von Frauen profitieren.