Sérgio Lessa von der Zeitschrift »Crítica Marxista« in São Paulo über die politische und ökonomische Krise in Brasilien

»Der Reichtum wurde weiter konzentriert«

Seite 2 – Wie geht es weiter?
Interview Von

 

In Rio de Janeiro ist die Gewalt in den vergangenen Monaten besonders eskaliert. Dabei galt die Stadt noch vor kurzem als eine Art Schaufenster des modernen Brasiliens.
Vor den Olympischen Spielen wurde versprochen, dass alle Bewohner von den immensen Ausgaben für die Infrastruktur profitieren würden. Tatsächlich hat nur die Korruption ein histo­risches Ausmaß angenommen. An den sozialen Widersprüchen hat sich nichts geändert, nur die Kluft ist noch größer geworden.

Die Regierung schickt mittlerweile die Armee auf die Straßen von Rio de Janeiro.
Es ist keine Frage der Polizeitaktik, sondern ein generelles gesellschaftliches Problem. Die Drogen sind nur ein Symp­tom dafür. Wir erleben derzeit die größte Wirtschaftskrise seit über drei Jahrzehnten. Die Arbeitslosenrate liegt vermutlich bei über 20 Prozent. Was sollen diese Leute machen ohne jede Aussicht auf einen Arbeitsplatz in den nächsten Jahren? Wenn die Menschen keine Arbeit und keine Perspektive mehr haben, dann bietet der Drogenhandel die einzige Möglichkeit, um zu überleben. Wenn man im Knast landet, zahlen die Drogenbosse den Angehörigen eine monatliche Rente – das ist besser als alles, was der Staat zu bieten hat.

Ist es nicht paradox, dass in Rio de Janeiro mit Marcelo Crivella ein Bürgermeister gewählt wurde, der das korrupte System repräsentiert, und nicht ein linker Gegenkandidat?
Warum sollen die Leute einen linken Kandidaten wählen, der keine Chance hat, tatsächlich etwas zu verändern? Die linken Parteien wollen das System reformieren und besser verwalten, aber das ist nicht glaubwürdig.

Und was ist glaubwürdig?
Ein evangelikaler Politiker wie Crivella: Er verspricht, das System zu kontrollieren, weil angeblich Gott auf seiner Seite ist und weil er über die richtigen Beziehungen verfügt. Die Leute wählen jene, die über die Macht und über den Zugang zu den Reichen verfügen, in der Hoffnung, dass für sie auch noch etwas abfällt. Dabei geht es weniger um Ideologie. Wenn die Stadtverwaltung von Rio die Löhne der öffentlichen Angestellten nicht bezahlt, machen viele Leute, die zuvor für einen rechten Politiker gestimmt haben, bei den Streiks und Protestaktionen der Linken mit.

Wie kann die Linke darauf reagieren?
Die Linke versucht sich wieder zu organisieren. Es gibt einige interessante Ansätze, wie wir sie vielleicht seit dem Ende der Diktatur nicht mehr gesehen haben. Aber insgesamt ist die Linke schwach und verfügt über wenig Einfluss.

Wie soll das weitergehen?
Ich sehe zwei Möglichkeiten, beide sind schlecht. Die Menschen sind so unglücklich und so wütend in ihrem Alltag, dass eine soziale Explosion möglich ist. Man darf sich darunter nicht einen linken Aufstand oder eine Art Revolution vorstellen, sondern eher ein sehr gewaltsames und tragisches Ereignis. Das ist wirklich beängstigend. Der Staat bereitet sich jedenfalls auf eine solche Entwicklung vor und rüstet auf.

Was wäre die zweite Option?
Die derzeitige Entwicklung könnte noch einige Jahre weitergehen. Ich weiß nicht, was dann geschieht, weil die gesellschaftlichen Strukturen am Zusammenbrechen sind. Die sozialen Bindungen, die die brasilianische ­Gesellschaft zusammenhalten, lösen sich in einer erschreckenden Geschwindigkeit auf. Irgendwann werden sich dann alle nur noch bewaffnet aus dem Haus trauen. Es fällt wirklich sehr schwer, sich vorzustellen, wie die Si­tuation besser werden könnte.