Small Talk mit Irfan Ortaç, dem Vor­sitzenden des Zentralrats der Eziden in Deutschland, über die Lage in Afrin

»Minderheiten abschlachten«

Mit der türkischen Armee sind in den vergangenen Tagen auch jihadistische Gruppen in die nordsyrische Region ­Afrin einmarschiert. Der Zentralrat der Eziden in Deutschland warnt deshalb vor einem erneuten Massenmord von Jihadisten an der Minderheit. Irfan Ortaç, der Vor­sitzende des Zentralrats, hat mit der Jungle World gesprochen.
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STWie viele Eziden leben zurzeit in der Region Afrin?
Nach unseren Informationen leben in den ezidischen Ortschaften etwa 15 000 Menschen. Darunter befinden sich Binnenflüchtlinge aus Aleppo, die sich nach Afrin begeben haben, weil die Region seit 2011 als eine der sichersten in Syrien gilt.

Stehen Sie mit Eziden in Afrin in Verbindung?
Der Zentralrat hat einen Krisenstab eingerichtet, der mit Menschen in Afrin in Kontakt steht. Sie liefern uns fast stündlich Informa­tionen. Die Kommunikationswege stehen zum Glück noch offen.

An der türkischen Offensive sind Jihadisten beteiligt. Was ist über diese Gruppen bekannt?
Es wird in den Medien häufig von der Freien Syrischen Armee (FSA) gesprochen. Wer in Deutschland diese Bezeichnung hört, denkt wahrscheinlich, es handle sich um eine liberale Armee, die gegen Assad kämpft. Im Jahr 2011 hat sich die FSA zwar aus liberalen Kräften rekrutiert. Heutzutage aber handelt es sich de facto um Jihadisten, denen man vor Monaten noch in Mossul, Raqqa oder Tal Afar begegnen konnte.

Was wissen Sie über die Pläne der Jihadisten?
In sozialen Medien posten sie Videos, in denen sie mit Freuden ankündigen, die Minderheiten abzuschlachten. Zudem kursieren ­Gerüchte, denen zufolge die Jihadisten Namenslisten von ezidischen Familien führen, die getötet werden sollen. Die Jihadisten legitimieren die Tötung ezidischer Männer mit Koranversen, ezidische Frauen sollen als Kriegsbeute verschleppt werden. Sie beginnen ihre Angriffe immer mit dem Schlachtruf »Allahu akbar«.

Der Zentralrat hat darauf hingewiesen, dass das Vorrücken der Jihadisten auch für Christen eine Gefahr ist.
Die Jihadisten sind für alle eine Gefahr. Die Region war lange für ihre gesellschaftliche Vielfalt bekannt. Christen haben im Lauf der Jahrhunderte dort gelebt, Aleviten, Eziden und Juden, Muslime ohnehin. Die Jihadisten wollen genau diese Vielfalt endgültig zerstören. Wenn die Minderheiten die Region verlassen müssen, ­werden sie nicht wieder dorthin zurückkehren können. Die Gesellschaft wird dort endgültig homogen sein.

Wie verhält sich die deutsche Politik angesichts der Lage?
Ich werde später mit dem für Syrien und Irak zuständigen Diplomaten telefonieren. Wir teilen dem Außenministerium seit Tagen mit, dass die Gefahr nicht nur von der Türkei ausgeht, sondern für die Eziden vor allem von den Jihadisten, die von der Türkei unterstützt werden.

Was muss geschehen, um die deutsche Öffentlichkeit auf die Lage aufmerksam zu machen?
Seit Tagen finden Kundgebungen statt. Ich selbst werde am Freitag an einer Kundgebung in Wetzlar teilnehmen, die von verschie­denen Organisationen unterstützt wird. Unabhängig davon müssen die Medien nach unserer Ansicht unbedingt klarstellen, dass in ­Afrin nicht nur eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen zwei verfeindeten Parteien stattfindet, sondern dass für die dort lebenden Minderheiten eine sofortige Intervention existentiell wichtig ist. Je länger der Krieg dauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass diese Minderheiten weiter dort leben werden – ganz von den Menschen zu schweigen, die zurzeit getötet werden.