Immer mehr Menschen aus Mittelamerika suchen in Mexiko Zuflucht vor der Gewalt in ihren Herkunftsländern

Vamos a Mexico

Lange Zeit war Mexiko vor allem eine Durchgangsstation mittelamerikanischer Migranten auf dem Weg in die USA. Nun suchen immer mehr Menschen in Mexiko Asyl. Frauen und LGBTI aus Mittelamerika fliehen häufig vor sexualisierter Gewalt.

Suchiate bedeutet »Blumenwasser« auf Nahuatl. Der Río Suchiate bildet auf 75 Kilometern im Südwesten Mexikos die Grenze zu Guatemala. Auf dem Fluss nahe der mexikanischen Grenzstadt Tapachula treibt eine Vielzahl von cámaras, selbstgemachten Schlauch­booten. Sie sind aus Traktorreifen ­gefertigt, die auf Bretter montiert wurden. Von einem Ufer zum anderen werden Kisten mit Nahrungsmitteln, Fahrräder und Dutzende Menschen übergesetzt. Informeller Händlerinnen und Händler drängen sich; Flößer, ­viele noch im Jugendalter, kassieren das Geld für die Überfahrt. Ein junger Honduraner verlangt 30 Pesos (1,30 Euro) für die Fahrt auf die guatemaltekische Seite. Aus der anderen Richtung kostet es zehn Quetzales (1,10 Euro). Der Flößer ist 19 Jahre alt. Vor drei Jahren ist er in Tapachula angekommen. Seitdem lebt er an der Grenze und bringt Reisende und Migranten über den Fluss.
Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge kommen jedes Jahr mehr als 450 000 Menschen über die Grenze zwischen Mexiko und Guatemala, um in Mexiko Asyl zu beantragen oder ihren Weg in Richtung USA fortzusetzen. Viele davon sind undokumentiert. Wegen der Verschärfung der Einwanderungspolitik der USA suchen nun immer mehr Migranten aus El Salvador, Guatemala, Nicara­gua und Honduras in Mexiko Zuflucht, das lange Zeit vor allem eine ­Zwischenstation auf ihrem Weg in die USA war.

Mexikos über 1 200 Kilometer lange Südgrenze, die die mexikanischen Bundesstaaten Chiapas, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo von den Nachbarländern Guatemala und Belize trennen, wird auch »die poröse Grenze« genannt. Sie unterscheidet sich sehr von der gut gesicherten Grenze im Norden, die Mexiko von den USA trennt. Dort soll Sicherheitstechnologie von herkömmlichen Gittern bis hin zu Drohnen und Sensoren die Migration in die USA aufhalten. Mexikos Südgrenze ist auf weiten Strecken hingegen wenig gesichert, geprägt von Wäldern, Flüssen und Bergen; es gibt kaum Städte oder große Schnellstraßen.
Obwohl Mexikos Südgrenze von den USA weit entfernt ist, spielt sie ein wichtige strategische Rolle für die US-Migrationspolitik. Alan Bersin, der stellvertretende Minister und Leiter der diplomatischen Abteilung des ­Ministeriums für Innere Sicherheit der USA, nannte den Grenzstreifen von Chiapas 2012 in einer Pressekonferenz die »zweite Südgrenze der Vereinigten Staaten«.

 

Die Gewalt bleibt

Lange Zeit herrschten in vielen Ländern Mittelamerikas Bürgerkriege – etwa in Guatemala von 1960 bis 1996, in El Salvador von 1980 bis 1991 und in Nicaragua 1978/79 und von 1981 bis 1990 –, die für große Migrationsbewegungen nach Nordamerika sorgten. Doch auch wenn diese Kriege seit Jahrzehnten ­beendet sind, sind die Verhältnisse vielerorts von Gewalt geprägt, die von kriminellen Banden, aber auch staatlichen Stellen ausgeht.

Für den 2017 veröffentlichten Bericht »Forced to Flee from the Northern Triangle of Central America – A Neglected Humanitarian Crisis« interviewte die Organisation Ärzte ohne Grenzen im Zeitraum von zwei Jahren 467 Flüchtlinge aus Mittelamerika in Mexiko.

39 Prozent gaben als Hauptgrund für die Flucht »direkte Angriffe oder Drohungen gegen sie selbst oder ihre Familie sowie Erpressung und erzwungene Anwerbung durch Banden« an. Doch auch in Mexiko sind viele nicht sicher, so berichteten 68 Prozent der Interviewten, dass sie dort Opfer von Gewalt ­geworden seien.

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Warten auf Kundschaft. Lastenfahrer und ihre Räder auf der mexikanischen Seite

Bild:
Virginia Negro

Vor allem Frauen sind auch von ­sexualisierter Gewalt betroffen. Über zehn Prozent der Befragten nannten diese als entscheidenden Auslöser für ihre Flucht. Eine von drei Frauen gab an, während ihrer Reise nach Mexiko sexuell missbraucht worden zu sein. Im Bericht von Ärzte ohne Grenzen wird unter anderem die Geschichte einer 35jährigen Frau aus Honduras erzählt. Bei ihrem vierten Versuch, Mexiko zu durchqueren, sei sie zusammen mit ihrer Nachbarin von der mexikanischen Bundespolizei an Mitglieder einer kriminellen Bande übergeben worden, die beide Frauen verschleppten. Das Schlimmste für sie sei gewesen, dass die Kriminellen auch Honduraner ­gewesen seien. Während sie ihr ein Messer an den Hals hielten, hätten die ­Bandenmitglieder sie vergewaltigt. Ihren Bericht schließt die Frau mit den Worten: »Es wäre besser gewesen, wenn sie mich getötet hätten.«

Auch in den Migrantenherbergen in Mexiko seien Migrantinnen aber nicht vor Übergriffen geschützt, wie Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Fray Matías de Córdova in der Grenzstadt Tapachula bestätigen. Dem wollen sie nun mit »Umerziehungs­programmen« entgegenwirken, die von für Gender-Fragen ausgebildetem ­Personal geleitet werden.

Martha Rojas, eine Mitarbeiterin des Forschungszentrums Colegio de la Frontera Sur (Ecosur) und Expertin für den Themenkomplex Migration und Geschlecht, weist noch auf ein anderes Problem hin, dem mittelamerikanische Migrantinnen ausgesetzt sind – die Ausbeutung im informellen ­Arbeitssektor: »Es gibt diverse Fälle von Frauen, die als Haushälterin arbeiten, keine Dokumente haben und deshalb am Ende nicht bezahlt werden. Die ­Arbeitgeber drohen damit, sie als ›illegale‹ Migrantinnen anzuzeigen. Es gibt sogar öffentliche Plätze, wo die Frauen angeworben werden. Manche sind minderjährig. Schlussendlich arbeiten sie ohne jegliche Arbeiterrechte.«

 

Zuhause diskriminiert

Es gibt eine weitere Migrantengruppe, die besonders von Gewalt betroffen ist. Ein Projekt der Organisation Transgender Europe (TGEU) hat zwischen ­Januar 2008 und Dezember 2016 159 Straftaten gegen Transpersonen in der mittelamerikanischen Region gezählt: Honduras führt die Liste mit 89 Übergriffen an, gefolgt von Guatemala mit 40 und El Salvador mit 30. Solche Statistiken bilden jedoch nicht die Gesamtheit aller tatsächlich begangenen Straftaten ab, da viele Über­griffe nicht zur Anzeige gebracht werden.

»In Zentralamerika wird eine trans­sexuelle Person nicht älter als 35 Jahre«, sagt Patricia. Die transsexuelle Aktivistin kommt ursprünglich aus El Salvador. Sie entschied sich, ihr Land zu verlassen, nachdem sie durch Bandenmitglieder und die Polizei Gewalt erfahren ­hatte. »Jetzt arbeite ich in Tijuana, mit meinem Partner. Ich möchte nach Kanada gehen und versuchen, dort Asyl zu beantragen. Die Comar, die mexikanische Kommission für Flüchtlingshilfe, hat es mir hier in Mexiko verweigert.«

Nach der jüngsten Untersuchung des UN-Flüchtlingskommissariats über »Sexuelle Gewalt aufgrund des Geschlechts an der Südgrenze Mexikos« haben 88 Prozent der LGBTI, die in ­Mexiko Asyl beantragt haben, in ihrem Herkunftsland sexuelle Gewalt aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer sexuellen Orientierung erfahren. In vielen Fällen fängt diese Gewalt bereits im engsten Kreis, in der Familie, an. Patricia hatte in dieser Hinsicht Glück. »Von meinen Familienangehörigen wurde ich unterstützt und akzeptiert«, sagt sie. »Meine Mutter war eine wichtige Stütze, sehr viele andere hatten nicht dieses Glück. Dennoch ist Gewalt und Diskriminierung ein un­­ausweichliches alltägliches Phänomen.«

 

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»Falls du aus Angst um dein Leben nicht in dein Land zurückkehren willst, beantrage Schutz als Flüchtling in Mexiko«

Bild:
Virginia Negro

 

Besondere Herberge

Die Leitung des Menschenrechtszentrums Fray Matías de Córdova hebt ­hervor, dass die Zahl der Homo-, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LGBTI), die nach Mexiko flüchten, in jüngster Zeit gestiegen sei. Diese wachsende Migrantengruppe braucht besondere juristische, gesundheitliche und psychologische Unterstützung. Oft kann diese ­jedoch nicht bereitgestellt werden, da die nötigen Mittel fehlen und Institu­tionen, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen, die im Bereich Migra­tion arbeiten, nicht auf die speziellen Bedürfnisse von LGBTI vorbereitet sind.

Die bislang einzige Migrantenherberge, die zwei Schlafsäle mit insgesamt zwölf Plätzen explizit für Transsexuelle eröffnet hat, ist La72 in Tenosique im südmexikanischen Bundesstaat Tabasco. La72 ist ein umfassendes Projekt für migrantische LGBTI. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen bietet eine spezielle Gesundheitsversorgung, die Organisation Asylum Access juristischen Beistand, der auf die Bedürfnisse jener Migrantengruppe zugeschnitten ist. »Trotz der Gewalt, die viele dieser Menschen erfahren haben, sind es meiner Erfahrung nach Personen, mit denen es viel einfacher ist, zusammenzuarbeiten und sie in die verschiedenen Aktivitäten miteinzubeziehen. Viele sind Aktivisten und obwohl sie sehr jung sind, haben sie bereits ein starkes Bewusstsein davon, wer sie sind und wer sie sein wollen«, erzählt Leticia, die Sozialarbeiterin der Migrantenherberge.

Der italienische Berater Vincenzo Castelli, der seit über zehn Jahren in Mexiko arbeitet, lobt das Projekt, doch sieht er politischen Nachholbedarf: »Obwohl es ein Migrationsgesetz gibt und ein ausgezeichnetes Gesetz zum Schutz von Kindern, reagiert die mexikanische Migrationspolitik in der ­Praxis angesichts der Ausmaße des Phänomens nicht adäquat und respektiert nicht die Menschenrechte.« Es gebe aber auch »positive Erfahrungen der Zivilgesellschaft, wie La72, oder der ­Regierung, wie im Fall der Kinder- und Jugendherberge El Colibri in Villahermosa in Tabasco, wo man neue Modelle bei der Betreuung minderjähriger Migranten ausprobiert«. Die Beispiele ­machen auch woanders Schule. »Zusammen mit der Unicef und der Regierung desBundesstaats Tabasco implementiert die Bundesverwaltung neue politische Maßnahmen und neue Aufnahmestrukturen. Ich arbeite genau daran und es gibt Fortschritte, so dass andere Grenzstaaten wie Chiapas das Modell nachahmen wollen«, so Castelli.

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Für viele nur eine Durchgangsstation. Der kleine Grenzort Paso del Coyote in Mexiko

Bild:
Virginia Negro

Auch die Europäische Union hat angefangen, sich mit den Besonderheiten der Grenzregion Mexikos zu Guatemala und Belize zu beschäftigen. Vergangenes Jahr hat die Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen (AGEG) zusammen mit der Agentur für Internationale Entwicklungskoopera­tion der Extremadura (Agencia Extremeña de Cooperación Internacional para el Desarrollo, AEXCID) ein Kooperationsprojekt der drei Nachbarländer entwickelt. Im Juni 2017 organisierten sie ein internationales Forum in Tapachula, in Zusammenarbeit mit Ecosur, einigen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Regierungen der Bundesstaaten, um Anwohner zu vernetzen und die verschiedenen Probleme der jeweiligen Länder kennenzulernen sowie deren grenzübergreifende Kooperation. Für April oder Mai dieses Jahr ist ein weiteres Treffen geplant, diesmal in Guatemala. Der Schwerpunkt soll dann, von den bisherigen Erfahrungen ausgehend, auf LGBTI liegen, eine der vulnerabelsten Migrantengruppen.