Die Konkrete Poesie und die Debatte um das Gedicht »avenidas« von Eugen Gomringer

Die gewahrte Fassade

Die Konkrete Poesie war ein Protest gegen tradierte Formen der Kunst und der Versuch, an die Vorkriegsavantgarde anzuknüpfen. In diesem historischen Kontext steht Eugen Gomringers Gedicht »avenidas«, das Teil einer Debatte war und von der Außenwand der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin entfernt wurde.

Ich bin Opfer von Gender-Theorien und von missverstandener political correctness. Das ist Zensur«, zitiert Bild den Schriftsteller Eugen Gomringer. Dass ausgerechnet der Boulevard zum Fürsprecher der Konkreten Poesie werden würde, Hand in Hand mit dem Pen-Verband und den Feuilletonseiten von der FAZ bis zur Allgemeinen Zeitung Mainz, hätte sich der schweizerisch-bolivianische Schriftsteller, der als Begründer der Konkreten Poesie gilt, sicher nicht träumen lassen, als er 1952 das Gedicht »avenidas« veröffentlichte. Das zum Skandalgedicht erklärte Werk wurde schon damals als literarische Provokation empfunden – von jenen, die sich gegenwärtig zu seinen Rettern erklären.

Dem bürgerlichen Feuilleton standen die Vertreter der Konkreten Poesie ablehnend gegenüber, weil es an einem Kunstideal festhielt, das in ihren Augen durch den Nationalsozialismus seine Daseinsberechtigung verloren hatte.

»An sie, die Verteidiger jeglicher Norm, ist zweifellos auch gedacht, wenn mit den Mitteln der Kunst die Vorstellung von Normalität vorsätzlich und grundsätzlich gestört wird«, sagte Ernst Jandl in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen.

Und diese »Verteidiger jeglicher Norm« reagierten; Günter Grass nannte die Dichter der Konkreten Poesie ab­fällig »Labordichter«, Hans Magnus Enzensberger schrieb 1960 im FAZ-Feuilleton vom »Geblök der Schafe im experimentellen Wolfspelz«. Adorno griff das Bild Enzensbergers auf und erwiderte ihm, ganz im Gegenteil laufe die Idee der engagierten Literatur auf »Geblök hinaus, auf das, was alle sagen oder wenigstens latent alle hören möchten«. Adorno verteidigte dagegen Kunstwerke, die »durch nichts anderes als ihre Gestalt dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt«. Kunst nach Auschwitz müsse das Einverständnis mit dem Leser aufkündigen und sich mit ästhetischen Eigenheiten behaupten. Auch Franz Mon erkannte im »Querstellen« der Sprache die gesellschaft­liche Störfunktion der Lyrik und die politische Dimension der Konkreten Poesie.

 

Eigentlich ist es eine gute Ausgangssituation, wenn Studierende tun, was Gomringer und seine Mitstreiter in den Fünfzigern propagiert haben: Sie hinterfragen Autoritäten, sei es die Universitätsleitung, seien es kanonisierte Dichter. Sie verstehen ihre Kritik als Einspruch gegen die gesellschaftliche Normalität des Alltagssexismus, fordern eine Reflexion im Umgang mit Sprache und ein Nachdenken über die Funktion der Kunst.

 

In der Tat war der Grundimpuls der Konkreten Poesie, das unreflektierte Anknüpfen an deutsche Lyriktraditionen zu boykottieren. Ihre Vertreter stemmten sich in den fünfziger Jahren gegen das Hergebrachte; sie erkundeten ihr Unbehagen an der lyrischen Sprache in Gedichtform. Die Literatur von in den zwanziger Jahren geborenen Literaten wie Franz Mon, Ernst Jandl, Gerhard Rühm oder Eugen Gomringer war eine unmittelbare Reaktion auf die geschichtliche Erfahrung des Nationalsozialismus. Franz Mon führte in einem Essay aus: »Das Bewusstsein der Autoren, die in den späten vierziger und fünfziger Jahren zu schreiben begannen, bewegte sich zwangsläufig auf dem Hintergrund der geborstenen Sprach- und Textlandschaft, die das ›Dritte Reich‹ hinterlassen hatte.« Daher, so Mon, sei ihre »Aversion gegen Indoktrinierung« nicht mehr zu löschen, woraus sich für ihre Literatur eine Vorsicht gegenüber inhaltlichen Festschreibungen, »ja die Weigerung gegenüber Aussagen, die Botschaften, Verkündigungen, Belehrendes beinhalten«, ergeben habe.

 

 

Der Ausgangspunkt der Konkreten Poesie war die Skepsis gegenüber der Sprache, die durch den Nationalsozialismus beschädigt war, die »hindurchgehen musste durch tausend Finsternisse todbringender Rede«, wie Paul Celan es einmal ausgedrückt hat. Das Anknüpfen an Lyriktraditionen, das Weitermachen erschien angesichts dieser Erfahrung unmöglich. Stattdessen bezogen sich die Lyriker der Konkreten Poesie auf Positionen und Strategien früherer Avantgardebewegungen, wie etwa der Dadaisten, die in ihren Lautgedichten den Bankrott der Sprache und der bürgerlichen Gesellschaft angesichts des Ersten Weltkriegs zum Ausdruck gebracht hatten. Die Sprache und somit auch die Literatur, so die Forderung der konkreten Dichter, müsse sich nach Auschwitz radikal ändern.

»konkret dichten heißt, bewußt mit sprachlichem material dichten«, hat Eugen Gomringer das Konzept der Konkreten Poesie zusammengefasst. Statt Metaphern, Bildern und Symbolen, die über das Gedicht hinausweisen, statt dem Ausdruck künstlerischer Subjektivität, bildet das Material »Sprache« das Kunstwerk. Die akustische und visuelle Materialität von Buchstaben und Worten wird zum Gestaltungsprinzip der Lyrik. Diese künstlerische Abkehr von einem Außerhalb der Kunst hat Franz Mon als die politische Funktion seiner Dichtung beschrieben, als Protest durch Negation. Sprachstrukturen werden kritisch hinterfragt und nicht als gegeben hingenommen. Die Gedichte der Konkreten Poesie verweigern sich dem Zweckhaften der Sprache: ein Ziel zu verfolgen, einen Inhalt zu vermitteln, der über das unmittelbare Sprachmaterial hinausweist.

»der beitrag der dichtung wird sein die konzentration, die sparsamkeit und das schweigen: das schweigen zeichnet die neue dichtung gegenüber der individualistischen dichtung aus«, formuliert Eugen Gomringer programmatisch.

 

»Konstellationen«

 

Konkrete Poesie

Gerhard Rühm in einer Ausstellung 1963 in Wien

Bild:
dpa / Imagno / Foto: Otto Breicha

 

»Konstellationen« nannte er dieses Konzept, in dem Buchstaben und einzelne Wörter zusammengesetzt wurden. Die Konstellation, so Gomringer, »umfasst eine gruppe von wörtern. in ihr ist zwei, drei oder mehreren neben- oder untereinandergesetzten wörtern eine gedanklich-stoffliche beziehung gegeben. und das ist alles!« Nicht Tiefe, Subjektivität oder Emotionen bestimmen diese Gedichte, sondern klare Formen und Rationalität sowie eine Tendenz zum Verstummen, wie etwa in Gomringers Gedicht »schweigen« von 1953, in dem das Schweigen nicht nur benannt, sondern in seiner Materialität als Leerstelle abgebildet wird.

Das erste Gedicht der Konkreten Poesie war Eugen Gomringers »avenidas« von 1952, das sich nicht nur den Sinnzusammenhängen von Sprache entzieht, sondern sich von der deutschen Sprache insgesamt abwendet. Der Streit über ein Gedicht, das bislang nur Literaturinteressierten bekannt war, entbrannte hauptsächlich an der Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt. Die Form, die für Gomringer im Mittelpunkt des Gedichts steht, interessiert die Kritiker des Poems kaum mehr. Das Gedicht bestätige, so der offene Brief der Alice-Salomon-Hochschule, gesellschaftliche Wert­hierarchien und Normsetzungen, ­indem es den männlichen Blick reproduziere, der Frauen eine Rolle ­zuweise, während der Mann das handelnde Subjekt des Gedichtes sei, der eine beobachtende, bewundernde Funktion einnehme.

Eigentlich ist es eine gute Ausgangssituation, wenn Studierende tun, was Gomringer und seine Mitstreiter in den Fünfzigern propagiert haben: Sie hinterfragen Autoritäten, sei es die Universitätsleitung, seien es kanonisierte Dichter. Sie verstehen ihre Kritik als Einspruch gegen die gesellschaftliche Normalität des Alltagssexismus, fordern eine Reflexion im Umgang mit Sprache und ein Nachdenken über die Funktion der Kunst. Selbst wenn man das Gedicht anders liest, anderer Meinung als die Asta-Vertreter ist, könnte man die Aufforderung zur Diskussion honorieren: Das Gegebene zu hinterfragen, ist schließlich das Beste, was man an der Universität lernen kann.

Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, über den strukturellen Sexismus der künstlerischen Avantgarden zu sprechen, der sich von den Futuristen und Dadaisten über die Surrealisten bis zu den Bewegungen der Nachkriegszeit tradiert hat. Man hätte über den Widerspruch einer Kunstform reden können, die einerseits die bürgerlichen Kunst- und Gesellschaftsvorstellungen ablehnt, andererseits die untergeordnete Rolle der Frau affimiert, indem sie Künstlerinnen an den Rand drängt. Es wäre auch eine gute Gelegenheit gewesen, über die Entpolitisierung radikaler Kunstwerke durch ihre kulturindustrielle Vereinnahmung und Überführung in den bildungsbürgerlichen Kanon zu diskutieren. Denn um die politische Dimension der Konkreten Poesie geht es in der Feuilletondebatte, in der sich ohnehin fast alle einig sind, nicht mehr. Im Mittelpunkt steht eine im Gestus des »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen« vorgetragene Verteidigung der Kunstfreiheit, in der gegenüber der Kritik die gleiche Ignoranz offenbar wird, die der Asta der Hochschule gegenüber dem Formbegriff der Konkreten Poesie und ihren politischen Aspekten zeigt. Deshalb sollte die Debatte fortgesetzt werden.