Sandro Mezzadra, Politologe, im Gespräch über die Liebe der Linken für alte Begriffe und die Notwendigkeit einer neuen Klassenpolitik

»Ein neuer Internationalismus ist die Aufgabe«

Seite 2 – Die Eltern von Didier Eribon
Interview Von

 

Hier kommen wir zu den Eltern von Didier Eribon, über die Sie in einem Text im vergangenen Sommer auf der Website des Kollektivs »Euronomade« schreiben, der auch ins Deutsche übersetzt wurde. Sie konstatieren, dass die Debatte über Eribons Buch »Rückkehr nach Reims« in Deutschland besonders intensiv war. Warum interessiert sich die deutsche Linke so stark für Eribons Eltern?
Vor allem in Deutschland ist in linken Debatten eine, wie soll ich das nennen, Idealisierung des Klassenkampfs zu beobachten, die etwas Zwanghaftes hat. Ich verstehe nicht wirklich, wohin man eigentlich zurück will, ich würde gerne wissen, wo man Klassenkampf heute verortet, wo man ihn praktiziert sieht. Ich vermute, dass damit die Idee verbunden ist, die Linke solle irgendwie ihr Kerngeschäft in den Mittelpunkt stellen, also Sozialpolitik im klassischen Sinne. Merkwürdigerweise ist das ein Punkt, in dem sich viele linke Strömungen einig zu sein scheinen.

 

»Eine gän­gige Ansicht ist: Die Linke ist am Ende, weil sie sich immer weniger um die für die Arbeiterklasse wichtigen Themen gekümmert hat, ergo wählt die Arbeiterklasse rechts. Das ist nicht nur viel zu einfach, sondern nähert sich teilweise rechten Diskursen an.«

 

Sie kritisieren einen statischen linken Klassenbegriff und setzen dem einen dynamischen entgegen; Sie sprechen von »Klasse werden«. Wer wird »Klasse« und wie geht das?
Ich glaube nicht, dass der Begriff der Klasse an sich eine Antwort auf die gegenwärtige Krise der Linken sein kann. Vielmehr betrachte ich ihn als eine ­offene Frage, die nicht endgültig beantwortet werden kann. »Klasse werden« ist nicht so abstrakt, wie es klingen mag. Er bezieht sich auf konkrete Bewegungen und Kämpfe, die die Zusammensetzung dessen, was Linke immer »Klasse« genannt haben, grundlegend verändert haben. Die Frauenbewegung zum Beispiel hat die Figur des industriellen Arbeiters, beziehungsweise dessen Relevanz für den Klassenbegriff, schon seit Ende der siebziger Jahren kritisiert. Die Frauenbewegung gehörte zu den ersten, die eine Ausdehnung des Arbeitsbegriffs propagiert haben. Sie wies auf das Verhältnis zwischen Produktion und Reproduktion hin, das heute ein entscheidender Aspekt linker Klassenpolitik ist. Dasselbe gilt für den Antirassismus und den Kampf der Geflüchteten für Teilhabe und soziale Rechte. Gerade Migration ist ein Feld, in dem eine stetige Neudefinition des Klassenbegriffs stattfindet.

Wie ich bereits sagte: Durch einen rein materialistischen Klassenbegriff ist die gegenwärtige Welt der Arbeit und des Lebens nicht mehr zu deuten. Er ist nicht mehr zeitgemäß, denn er lässt außer Acht, dass der Kampf um die materiellen Interessen von Leidenschaften, Affekten und Widersprüchen durchkreuzt ist, die immer wieder neue Subjektivitäten hervorbringen. Diese Subjektivierungsprozesse sind heute ein grundlegendes Kampffeld.

Sie reden viel von Subjekten. Damit tun sich viele Linke schwer – zumindest hier in Deutschland. Befürchtet wird eine zu große Nähe zur Identitätspolitik, die wiederum für den Niedergang des Klassenkampfs verantwortlich gemacht wird. Schon der Titel Ihres Buches weist auf diese Gegenüberstellung hin. Wie sieht denn ein linke Politik »jenseits von Klasse und Identität« aus?
In Deutschland hat man sich ziemlich früh mit der grundsätzlich richtigen Kritik an der Identitätspolitik befasst. Man muss aber aufpassen, keine falschen Widersprüche zu produzieren; Klassenpolitik versus Identitätspolitik ist ein beliebtes Konstrukt. Eine gän­gige Ansicht ist: Die Linke ist am Ende, weil sie sich immer weniger um die für die Arbeiterklasse wichtigen Themen gekümmert hat, ergo wählt die Arbeiterklasse rechts. Das ist nicht nur viel zu einfach, sondern nähert sich teilweise rechten Diskursen an. Die von Ihnen genannte Frontstellung – Klasse versus Identität – katapultiert uns zurück in die Zeiten von Haupt- und Nebenwiderspruch. Die neue Zusammensetzung der lebendigen Arbeit und der globalen Ökonomie mit alten Weltbildern zu erklären, wird nicht funktionieren.

Dass Identitätspolitik teilweise sehr problematisch sein kann, ist mir durchaus bewusst, und da ich derzeit in New York an der Universität lehre, weiß ich, wovon ich rede. Doch man kann nicht die Fragen ignorieren, die hinter dem stehen, was wir Identitätspolitik nennen. Dahinter steht nicht nur »Betroffenheit«, wie die Klassenkampf-Essentialisten oft vermuten, sondern die Kritik an konkreten Machtverhältnissen. Diese sind nicht abstrakt, sondern sehr spezifisch: Es geht um alltägliche Erfahrungen von Gewalt, Diskriminierung, Ausbeutung und Exklusion auf vielen Ebenen. Man kann nicht einfach sagen: Vergiss die subjektive Erfahrung und reih’ dich ein in die Arbeitereinheitsfront. Die Poli­tisierung solcher Subjektivitäten sollte zum Ausgangspunkt einer neuen, ­solidarischen Klassenpolitik werden – nicht trotz, sondern wegen ihrer Plu­ralität.

Und darin spielen Eribons Eltern keine Rolle mehr?
Das zentrale, einheitliche revolutionäre Subjekt, das für eine linke Klassen­politik oft gesucht wird, ist nicht mehr vorhanden. Eribons Eltern verkörpern die linke Nostalgie für dieses Subjekt. Eine neue linke Klassenpolitik kann nicht von ihnen ausgehen.