22.02.2018
Small Talk mit der Historikerin Dagmar Lieske über die Anerkennung von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« als NS-Opfer

»Keine Vorzeigeopfer«

Mit einer seit Sonntag freigeschalteten Online-Petition an den Bundestag fordern mehrere Wissenschaftler die Anerkennung der von der SS als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« bezeichneten ehemaligen KZ-Häftlinge als Opfer des Nationalsozialismus. Die »Jungle World« hat mit Dagmar Lieske gesprochen. Sie ist promovierte Historikerin, Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin und Mitinitiatorin der Petition.

STWas ist der Hintergrund der Petition?
Es gibt bis heute Opfer des Nationalsozialismus, die nicht anerkannt sind, weder offiziell politisch noch in der Erinnerungskultur. Es handelt sich um Menschen, die die Nazis als »Asoziale« und/oder »Berufsverbrecher« bezeichneten. Wir haben uns damit seit einigen Jahren wissenschaftlich befasst. Es ist klar, dass die meisten aus dieser Gruppe nicht mehr leben. Es geht also nicht mehr so sehr um eine materielle Entschädigung für Überlebende, sondern um die Anerkennung dieser Gruppe, so dass weitere Forschung ermöglicht wird und eine Verankerung in der Erinnerungskultur stattfindet. Damit wenden wir uns zunächst an den Bundestag als politische Instanz, aber natürlich wollen wir dadurch auch eine gesellschaft­liche Auseinandersetzung mit diesem Aspekt des Nationalsozialismus anregen.

Warum hat es so lange gedauert, bis dieser Aspekt Gegenstand der Forschung wurde?
Zum einen liegt das sicherlich daran, dass es Kontinuitäten gibt. Das heißt, dass schon lange vor der NS-Zeit und auch lange danach eine Stigmatisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen stattfand, zu denen eben auch die gehörten, die dann als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgt wurden. Zum anderen gab es wenig Kontakt zu Überlebenden aus diesen Gruppen, weil der auch nicht gesucht wurde. Dementsprechend ist es im Vergleich zu anderen Opfergruppen relativ schwierig, Dokumente und Nachlässe zu finden und Lebensgeschichten zu erforschen.

Stichwort Kontinuitäten – ein Begriff wie »Asozialer« findet sich ja noch immer im Sprach­gebrauch vieler Menschen. Wie virulent ist das Thema heutzutage?
Ich denke, dass es sehr virulent ist. Einmal die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen aus sozialen Gründen. Zum anderen findet man im Bereich der Kriminalpolitik, wenn es um Themen wie die Verfolgung von Sexualstraftätern geht, in der Bevölkerung noch heute eine große Unterstützung für vermeintlich einfache Lösungen. Man denke nur an die Forderung »Todesstrafe für Kinderschänder«, wie sie von der NPD und anderen Neonazis erhoben wird, oder auch an die Debatten über Sicherheitsverwahrung.

Man muss dabei sicherlich aufpassen, nicht alles gleichzusetzen. Aber bestimmte Vorstellungen vom Umgang mit sozial abweichendem Verhalten über sogenannte schwierige Biographien bis hin zu kriminellen Biographien sind weit verbreitet. Seit Mitte der neunziger Jahre ist in dieser Hinsicht ein gesellschaftliches Rollback zu beobachten, wodurch es kriminalpolitisch eine Verschärfung gibt. Man hat es zwar bei der sogenannten Kriminellenverfolgung und der Stigmatisierung »Asozialer« mit verschiedenen Phänomenen zu tun, sie sind aber miteinander verschränkt. Das ist ein weiterer Grund für die bislang mangelnde Erforschung: Es handelt sich in gewissem Sinne um unbequeme Lebensläufe, es sind eben keine Vorzeigeopfer. Aber egal, was die Leute vorher gemacht haben – es war unrecht, dass sie ins Konzentrationslager gekommen sind. Niemand saß zu Recht im KZ.

Die Petition findet sich unter change.org/vergessene-opfer