Klassenkampf als Antwort auf die Krise der liberalen Demokratie

Stur bleiben!

Populismus bedroht die liberale Demokratie. Kann man heute von den Problemen der sozial benachteiligten Schichten reden, ohne populistisch zu sein? Ja, es gibt aber Bedingungen.

Als die Aufregung um die Essener Tafel und ihren Chef Jörg Sartor am größten war, meldete sich FAZ-Herausgeber und Feuilletonchef Jürgen Kaube zu Wort. Seine Worte waren markig: »Nicht Jörg Sartor hat den Konflikt in die Gruppe der Hilfesuchenden hineingetragen, nicht Jörg Sartor hat sich Hartz IV ­ausgedacht und auf Parteitagen den Kanzler bejubelt, der es sich mitaus­gedacht hat, nicht Jörg Sartor hat es verabsäumt, etwas gegen Wohnungsknappheit und hohe großstädtischen Mieten und zu geringe Bedarfssätze zu tun.«

Dürfen wir Kaube also demnächst als Leitartikler bei der Jungle World oder, falls ihm die Zeitung zu liberal sein sollte, bei der Jungen Welt begrüßen? ­Natürlich nicht. Die FAZ bleibt unbeirrt auf Kurs. Wenn im Feuilleton über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland gemault wird, ­erscheinen auf den Politik- und Wirtschaftsseiten mindestens zehn Artikel mehr, in denen die Autoren ihre Beißreflexe angesichts jeder noch so ­bescheidenen Forderung von Gewerkschaften vorführen. Die Haltung ­Kaubes erzählt viel über die Fortschritte der Demokratie in diesen Tagen. Sich über die Armutspolitik der letzten 15 Jahre aufregen, aber dabei vermeiden, die Eigentumsfrage und die Rolle des deutschen Imperialismus in Europa irgendwie zu thematisieren – das ist lupenreine Ideologie.

Kennzeichen dieser Ideologie ist, dass aus dem von ihr vorgebrachten Protest nie das Naheliegende folgt, also kein politisches Programm, Bodenspekulationen zu verbieten, den Wohnungsbau zu kommunalisieren, den zweiten und dritten Arbeitsmarkt – dort, wo die »prekären« Arbeitsplätze zugeteilt werden – zu schließen. Es folgt gar nichts, nur ein Raunen und Zähneknirschen, letztlich die zynische Bestätigung, dass TINA – Thatchers »There is no alternative« – doch noch gilt. Diese Haltung ist nicht etwa auf ewig schwankende Edelfedern beschränkt, sondern ist der Kern des intellektuellen Populismus: Durch die Bank findet man sie bei ­allen Neokonservativen und Postliberalen – oder Postkonservativen und ­Neoliberalen –, ob nun Broder oder Klonovsky, Kubitschek oder Elsässer, Jebsen oder Kaube. Oberflächlich ist ihre Ideologie ein giftiges Amalgam aus linken und rechten Gefühls- und Theorieversatzstücken, aber sie ist noch mehr: Sie ist die Aufkündigung des ehernen Versprechens bürgerlicher Demokratie.

Bekanntlich erwartete von der Demokratie niemand, dass sie verwirklicht, was sie ihrem Anspruch nach sein möchte; dass sie so funktioniert, wie sie funktionieren müsste. Gerade das wurde von liberalen Theoretikern als ihre eigentliche Stärke behauptet – weil die Demokratie nicht ihrem Ideal entspricht, strebt sie ihm ewig ent­gegen, darin erweist sie sich als human, offen, selbstreflexiv. George W. Bush soll zu den Folterbildern von Abu Ghraib gesagt haben, dass nur in einer ­Demokratie solche »Skandale« herauskämen und aufgearbeitet würden. Bush war kein Idiot. Auf die Idee, noch aus Folterungen auf die (moralische) Überlegenheit jener Demokratie zu schließen, die sie systematisch betrieben hat, kann wirklich nur ein lupen­reiner Demokrat kommen.

 

Arbeiterinnen und Arbeiter sollen zwar wieder Gehör finden, versprechen die Populisten, aber eben als solche, nie als rebellische Subjekte.

 

Kurzum: Die Demokratie will nicht nach ihren realen Handlungen bemessen werden, sondern nach ihrem ­Potential, nicht nach den sozialen und ökonomischen Resultaten ihres Systems, sondern nach dem, was sich – diese Resultate vorausgesetzt – noch verbessern ließe. Nur mal nebenbei: Würde man so mit seinen Kindern umgehen, oder seinen Freunden und Kollegen, es wäre Menschenschinderei.

Die Demokratie – das ist die Möhre, die vor der Nase des Esels baumelt. ­Irgendwann ist dieses Spiel überreizt, mittlerweile scheint das weltweit der Fall zu sein. Denn im Neoliberalismus wird dem Esel nicht nur die stets unerreichbare Möhre vor die Nase gehalten, er muss auch noch dafür zahlen. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Die Populisten – ob offen faschistisch oder verbrämt feuilletonistisch – ballen die Fäuste, aber nur in der Tasche. Ihre ­Artikel, Reden und Proklamationen durchzieht ein einziges »So geht’s nicht mehr weiter« durchzogen, und doch zielen sie mit keinem Wort auf die Geschäftsbedingungen der Demokratie, die kapitalistische Produktionsweise (Karl Marx sprach erst spät vom Kapitalismus und viel lieber von der kapitalistischen Produktionsweise, die in der bürgerlichen Gesellschaft herrscht – eine feine Differenzierung).

 

 

 

Das Privateigentum an den Produktionsmitteln bleibt unantastbar; Arbeiterinnen und Arbeiter sollen zwar wieder Gehör finden – das Versprechen der Populisten –, aber eben als solche, nie als rebellische Subjekte, die ihr mieses Arbeiterinnendasein hinter sich lassen wollen. Es gilt, »die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentums­verhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten«, schrieb einst Walter Benjamin. Sie sehen ihr Heil darin, »die Massen zu ihrem ­Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen«.

Benjamin hatte den Faschismus im Sinn, und das offene Bekenntnis zum Faschismus wäre die Feuertaufe für den heutigen Populismus. Es wäre das ­ungeschmälerte Bekenntnis zum Volk und zu einem Volkswillen, der alle morschen Institutionen, Parteien und bürokratischen Vermittlungsformen beiseiteschiebt und von visionären Führern verkörpert wird. Aber bitte – nicht mal Björn Höcke träumt davon. Wer seine berüchtigte »Schandmal«-Rede ganz gehört hat, dem wird auf­gefallen sein, wie wenig er mit diesem Land anfangen kann, wie sehr er sich vor Westdeutschland und den Großstädten ekelt. Sein Deutschland wäre ein Rumpfstaat von der Größe der DDR – abzüglich Berlin. Der Faschismus der zwanziger Jahre war modern und konnte den anstehenden (blockierten) Rationalisierungsschub des Kapitals freisetzen und radikalisieren. Davon kann heute keine Rede sein: so gesehen hat der Neoliberalismus noch den Faschismus unter­graben und zu einer Spielmarke im Spektakel der Politik herabgesetzt.

Das ist alles kein Grund zur Entwarnung. Kommen wir zur nächsten Rede, Cem Özdemirs Wutattacke auf die AfD. Wenn ich die Einlassungen dazu in der Jungle World richtig verstehe, gilt sie als Dokument eines »integrativen« (also nichtvölkischen, sondern sozial-demokratischen) Patriotismus und ­Özdemir vielleicht als zukünftiger Bündnispartner einer Bürgerrechtspolitik. Özdemir spricht davon, wie er am Ende der Sitzungswoche des Bundestages zurück in seine Heimat fährt, erst nach Stuttgart, dann mit der S-Bahn nach Bad Urach. Er will sich diese ­Heimat, dieses Heimatgefühl nicht von der Hasspolitik der AfD kaputtmachen lassen. Meinetwegen. Aber – wie viel an Einsicht und Kritik hat man als Linker aufgegeben, um dies für einen Minimalkonsens zu halten? Özdemir spricht selbstverständlich nicht davon, wie es ist, in Deutschland auf den Schienennahverkehr angewiesen zu sein, der notorisch unzuverlässig ist und systematisch heruntergewirtschaftet wurde. Er spricht nicht von den Pendlern, die gleichwohl auf die maroden S-Bahnen angewiesen sind, weil sie sich keine Wohnungen mehr in der Nähe ihres Arbeitsplatzes leisten ­können.

Man kann sehr wohl von den Problemen der Arbeiter und Angestellten ­reden, ohne populistisch zu sein – es fängt damit an, auf das Wort Heimat zu verzichten.

Und es geht damit weiter, nicht länger auf ihre neuerliche Integration in eine Demokratie zu setzen, die genau diese Funktion, ihre sozialpartnerschaft­liche Integrationsfähigkeit, gründlich entsorgt hat. Sozialistische Politik, in alter Sprache: Klassenkampf, war einmal der Kampf um die kollektive Wiederaneignung unserer Existenzbedingungen. Darauf stur zu beharren und konsequent die gesellschaftlichen Felder durchzuackern – von der infrastrukturellen Benachteiligung ganzer Re­gionen, die zunehmen wird, über Wohnungsnot, die Ruinierung des öffent­lichen Raumes und die Spaltung der Arbeiter in »Stammpersonal« und »Leiharbeiter« bis zum desaströsen Menschensortieren in der Bildung –, ­darin besteht die kleine Chance, den Klassenkampf auf die Tagesordnung zu setzen.