Die Editionsgeschichte von Franz Neumanns »Behemoth«

»Der National­sozialismus ist kapitalistisch und anti­kapitalistisch«

Franz Neumanns Anfang der vierziger Jahre im US-amerikanischen Exil entstandene Studie »Behemoth« gilt als die erste umfassende Strukturanalyse des NS-Regimes. Während das Buch im angelsächsischen Raum schnell zum Standardwerk wurde, setzte die Rezeption in Deutschland nur zögerlich ein. Nun wird die deutschsprachige ausgabe neu aufgelegt.

Franz Neumanns Studie »Behemoth« war neben Ernst Fraenkels »Doppelstaat« einer der ersten Versuche, die »Struktur und Praxis des Nationalsozialismus« zu analysieren. Bemerkenswert ist, dass das Buch im Juni 1941 im US-amerikanischen Exil fertiggestellt wurde, nahezu zur selben Zeit, als das sogenannte Unternehmen Barbarossa, der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion begann, und wenige Wochen, bevor Hermann Göring an Reinhard Heydrich den folgenden Satz schrieb: »Ich beauftrage Sie, einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzu­legen.«

Die erste Auflage des Buchs erschien 1942 in New York, zu einer Zeit, als die nationalsozialistische Herrschaft auf ihrem Höhepunkt war und noch niemand wissen konnte, dass der Siegeszug der Wehrmacht alsbald sein Ende finden würde. Während Neumanns Analyse im angelsächsischen Raum schnell zur Standardlektüre wurde, blieb sie im Land der Täter lange ein Geheimtipp. Die erste deutschsprachige Auflage erschien erst im Jahre 1977, die vorläufig letzte vor 14 Jahren in der »Schwarzen ­Reihe« des Fischer-Verlags. Wer die deutsche Übersetzung des Buchs ­erwerben wollte, musste für ein gebrauchtes Exemplar 100 Euro oder mehr aufbringen. Doch die antiquarische Suche hat jetzt ein Ende: Die Europäische Verlagsanstalt hat am 29. März eine Neuauflage herausgebracht, die mit der Fischer-Ausgabe seitenidentisch ist. Ergänzt wird sie durch ein biographisches Vorwort des Politikwissenschaftlers Alfons Söllner und ein Nachwort des Historikers Michael Wildt. Die Heraus­geber fassen ihre Beweggründe so zusammen: »Die Grundstruktur des ›Behemoth‹ sowie der unerbittliche Realismus des gesellschaftstheore­tischen Zugriffs haben, weit über Neumanns Tod hinaus, den Grundstein für die heute etablierte und ­international ausgerichtete Holocaustforschung gelegt.«

Es sei daher an der Zeit, die Studie wieder ins Gedächtnis zu rufen, schreiben die Herausgeber in ihrer Vorbemerkung.

Franz Leopold Neumann hatte der Erstausgabe einen kurzen, knapp einseitigen Text mit dem Titel »Bemerkungen zum Namen Behemoth« vorangestellt, in dem er die Begriffswahl erklärte: »Since we believe Na­tional Socialism is – or is tending to become – a non- state, a chaos, a rule of lawlessness and anarchy, which has swallowed the rights and dignity of man, and is out to transform the world into a chaos by the supremacy of gigantic land masses, we find it apt to call the National Socialist system: The Behemoth.« Behemoth ist eigentlich der Name eines Ungeheuers aus dem jüdischen Tanach und wird oftmals als Landlebewesen und Gegenstück zum Seeungeheuer Leviathan dargestellt.

Das Buch wurde komplett im Exil verfasst. Neumann hatte Deutschland bereits am 10. Mai 1933 verlassen. Er war nach London geflüchtet, nachdem sein Büro im Haus des Berliner Gewerkschaftsverbandes – für den er gemeinsam mit Ernst Fraenkel als Anwalt tätig war – von der SA besetzt worden war. In London studierte er bei Harold Laski und Karl Mannheim an der School of Economics and Political Science Politik und Soziologie und verfasste hier eine zweite Doktorarbeit. 1936 siedelte Neumann nach New York über.

1937 wurde Neumann Mitarbeiter im emigrierten Institut für Sozialforschung in New York. Im Gegensatz zu der Gruppe um Friedrich Pollock und Max Horkheimer vertrat er die Auffassung, dass es sich beim Nationalsozialismus nicht um einen staatlich gelenkten Kapitalismus handele, vielmehr sei die Ökonomie strukturell nach wie vor privatkapitalistisch organisiert. Dies wurde von Neumann im Kapitel »Propaganda und Gewalt« erläutert: »Der National­sozialismus ist kapitalistisch und antikapitalistisch zugleich. Er ist auto­ritär und antiautoritär. Er kooperiert mit jeder Gruppe in Armee und Bürokratie, die sich seiner Propaganda zugänglich zeigt.«

Franz Neumann kam aus der Arbeiterbewegung und war neben seiner Tätigkeit für die Gewerkschaft auch in der SPD engagiert. »Er war von Hause aus Praktiker und wurde erst im Exil zum Gesellschaftstheo­retiker, seine Tätigkeit als Jurist schärfte seinen Zugriff auf die Materie enorm«, sagt Alfons Söllner.

Vor allem bei der Analyse des Untergangs der Weimarer Republik konnte Neumann auf zahlreiche empirische Erhebungen zurückgreifen. Dennoch blieb die Quellenlage bei neuen Entwicklungen prekär. Neumann hatte in New York zwar Zugang zu den großen Bibliotheken wie etwa der Butler Library an der Columbia University, über die Vorgänge im »Dritten Reich« gab es aber kaum mehr verlässliche Informationen. Erst für die erweiterte Ausgabe im Jahr 1944 konnte er auf die Unter­lagen des Office of Strategic Services (OSS) zurückgreifen. Durch seine Mitarbeit beim amerikanischen Geheimdienst hatte er erste Erkenntnisse über die Vernichtungslager im besetzten Polen, dem sogenannten Generalgouvernement, erlangt. Für das OSS waren auch ehemalige ­Kollegen am Institut für Sozialforschung wie Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse oder Schriftsteller wie Carl Zuckmayer und Klaus Mann tätig.

 

Die Bereitschaft, zu ergründen, was der National­sozialismus war, worin seine Vor­be­din­gungen bestanden und weshalb Auschwitz möglich wurde, wuchs im Nachkriegsdeutschland äußerst langsam.

 

Die neuen Dokumente zerstörten auch die Hoffnung, dass die deutsche Arbeiterbewegung das Hitlerregime stürzen könnte. Von nun an setzte Neumann allein auf die Alliierten, insbesondere die USA. Das Misstrauen gegen weite Teile der deutschen Bevölkerung sollte er bis zu seinem Tod im September 1954 nicht mehr ablegen. In derartigen Widersprüchen, vielleicht auch im Zweifel, ob er dem Massenmord an den europäischen Juden in seiner Analyse gerecht geworden sei, vermuten die Herausgeber der Neuauflage die Gründe, weshalb Neumann nach dem Krieg nicht darauf drängte, den »Behemoth« in der Sprache der Täter zu veröffentlichen.
Besonders die Polykratie-Theorie, die Annahme von den vier Säulen des Nationalsozialismus, und die radikale wie provozierende

These, dass die Verbrechen der totalitären NS-Diktatur das Resultat eines Prozesses waren, an dem die ganze deutsche Gesellschaft mitgewirkt hat, gehören zu den bleibenden Einsichten des »Behemoth«. Eine Erkenntnis, die auch den Chefankläger im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, zu der Aussage veranlasste: »Wenn ich mein Büro verlasse, befinde ich mich im feindlichen Ausland.«

»Nimmt man an, dass Neumann nur zu genau wusste, welche Hypothek darin für die Zukunft der neuen deutschen Demokratie steckte, so kann man in seiner auffällig defensiven Haltung bezüglich der deutschen Publikation des ›Behemoth‹ ein tiefes Misstrauen gegen seine ehemaligen Landsleute, aber auch eine ebenso tiefe Resignation gegenüber seinem eigenen Werk und Wirken sehen«, vermutet Söllner.

Kurz vor seinem Tod schreibt Neumann in einem Brief an die Soziologin Helge Pross: »Vielleicht ist es ein Schuldgefühl, das ganz tief sitzt: Wie oft habe ich mir nach 1933 die Frage vorgelegt, wo meine Verantwortlichkeit für den Nationalsozialismus eigentlich steckt (…) Ich habe ja mit eigenen Augen gesehen, wie verlogen die SPD in den Monaten Juli 1932 bis Mai 1933 war (und nicht nur damals), und habe nichts gesagt. Wie feige die Gewerkschaftsbosse waren – und ich habe ihnen weiter gedient. Wie verlogen die Intellektuellen waren – und ich habe geschwiegen.«