Der »soziale Arbeitsmarkt« schützt nicht vor Armut

Für 93 Cent mehr

Die Schaffung eines »sozialen Arbeitsmarkts« ändert weder etwas am Wesen von Hartz IV noch an der Armut. Eine Abschaffung des bestehenden Systems der Grundsicherung zugunsten eines besseren ist nicht in Sicht.

Nach den offiziellen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit gibt es derzeit in Deutschland 856 800 Langzeitarbeitslose, Menschen die seit einem Jahr oder länger arbeitslos gemeldet sind. »150 000 davon gehören zum harten Kern«, sagte ein Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Viele Langzeitarbeitlose wechseln von einer Jobcenter-Maßnahme zur nächsten. Die gesetzliche Grundsicherung Hartz IV verlassen die wenigsten von ihnen. Die Verärgerung der Betroffenen ist groß. Das weiß zum Beispiel Harald Thomé. Er gehört zum Vorstand des Wuppertaler Erwerbslosenvereins »Tacheles«. Der Name ist Programm, »wenn es um die Rechte sozial benachteiligter und erwerbsloser Menschen geht«, wie es auf der Homepage des Vereins heißt. Eigentlich verlangt der Verein fünf Euro Beratungsgebühr. Den meisten Ratsuchenden sagt Thomé aber, dass sie das Geld erst zahlen ­sollen, wenn sie es können. »Ich weiß manchmal nicht, wie die Leute ihr Überleben sichern, und will es manchmal auch nicht genau wissen.«

In Wuppertal gebe es eine besondere Situation. Das Jobcenter interessiere sich nicht für die Rechte der Erwerbslosen, der Beratungsbedarf sei aber deutlich höher als in anderen Städten. »Es kommen regelmäßig Menschen hier her, die drei Monate warten, bis ihr Antrag überhaupt bewilligt wird. Die müssen also drei Monate ohne Geld auskommen«, so Thomé. »Das ist ein ­Klima der Entrechtung und der Willkür«, kritisiert er.

 

Mit dem von Müller vorgeschlagenen Einkommen müssten die meisten Menschen weiterhin Hartz IV beziehen.

 

Oft setzt sich der Verein dafür ein, dass überhaupt die Miete der Menschen bezahlt und der Strom nicht abgeschaltet wird. »Die Leute sind völlig verzweifelt«, stellt er fest. So groß sein Ärger über das Wuppertaler Jobcenter ist, so groß ist auch der über die derzeitige Diskussion über Hartz IV, das von Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) vorgeschlagene »solidarische Grundeinkommen« und den von der Großen Koalition geplanten sogenannten sozialen Arbeitsmarkt.

Dem »solidarischen Grundeinkommen« kann Thomé nichts abgewinnen: »Der Berliner Bürgermeister schmeißt mit ­Nebelkerzen um sich und will vom eigentlichen Problem der SPD ablenken. Im solidarischen Grundeinkommen steckt nichts Solidarisches. Es ist die Fortsetzung des Niedriglohnsektors.« Das eigentliche Problem der SPD sei Hartz IV, so das Tacheles-Vorstandsmitglied: »All diese Modelle sind Überlegungen, wie sie die Leute durch eine Namensänderung wieder zurück zur SPD bekommen.« Mit den von Müller vorgeschlagenen 1 200 Euro netto würden nach Thomés Kalkulation viele Menschen mit Hartz IV aufstocken müssen. Thomé rechnet durch: »Regelleistung, Miete, Strom, Wasser, sozialrechtlicher Bedarf, Erwerbstätigenfreibetrag. Beim solidarischen Grundeinkommen haben Betroffene 18,43 Euro mehr zur Verfügung. Wenn ich den Vorteil dazu rechne, dass Hartz-IV-Empfänger vom Rundfundbeitrag befreit sind, dann ist die Differenz 93 Cent.«

Auf Kritik stößt auch der Vorstoß von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD). Er will einen »sozialen Arbeitsmarkt« einrichten. Vier Milliarden Euro will die Bundesregierung investieren, um Arbeitsplätze mit öffentlichen Geldern zu fördern. Ziel sei es, »einen Teil der Langzeitarbeitslosen wieder in den freien Arbeitsmarkt zu integrieren«, so ein Ministeriumssprecher auf Anfrage der Jungle World. Unternehmen sollen beispielsweise mehrjährige Zuschüsse für Löhne erhalten können, außerdem sollen Erwerbslose gemeinnützige Arbeit in Kommunen verrichten. Im Gegensatz zu Müllers Vorschlag des »solidarischen Grundeinkommens« ist beim »sozialen Arbeitsmarkt« nicht die Rede davon, dass in diesem Modell der Mindestlohn gezahlt werden soll. »Sie sollen zur Arbeit gehen, nach Hause kommen und sich gut fühlen«, erklärt das Ministerium.

Ob dieses Vorhaben von Erfolg gekrönt sein wird, ist am Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen umstritten. Das IAQ beschäftigt sich sozialwissenschaftlich mit Arbeit und Beschäftigung, ­sozialer Sicherung und Bildung. Claudia Weinkopf ist stellvertretende geschäftsführende Direktorin des Instituts und sieht Probleme bereits beim Zugang zum sozialen Arbeitsmarkt: »Das Konzept sagt, dass sie nur aus Hartz IV raus kommen, wenn sie im sozialen Arbeitsmarkt eine Vollzeittätigkeit ausüben.

 

 

 

Das schließt aber viele aus, zum Beispiel Alleinerziehende, die vielleicht nur 30 Stunden arbeiten können. Ähnliches gilt für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder diejenigen, die Angehörige pflegen. Damit werden viele Personen ausgegrenzt, die vielleicht auch gerne eine Beschäftigung aufnehmen würden«, sagt Weinkopf. Zudem stelle sich die Frage, wie die bis zu 150 000 Arbeitsplätze im sozialen Arbeitsmarkt vergeben werden sollen. »Wenn das Interesse groß ist, dann stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgt und wer die Chance bekommt, in den sozialen Arbeitsmarkt integriert zu werden«, so die Expertin.

Weinkopf zufolge komme es vor allem auf die Ausgestaltung an, auch bei möglichen Lohnkostenzuschüssen für Unternehmen. In der Vergangenheit hat die Bundesregierung mehrere Hundert Millionen Euro in sogenannte Eingliederungszuschüsse investiert. Hat ein Bewerber nicht die geforderte Qualifikation oder soll in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden, kann ein Unternehmen im Regelfall die Übernahme von bis zu 50 Prozent der Lohnkosten über eine Dauer von zwölf Monaten bei der Bundesagentur für Arbeit beantragen.

»Wenn zusätzlich auch Stellen in der Privatwirtschaft gefördert werden sollen, zum Beispiel über Lohnkostenzuschüsse für Unternehmen, dann muss darauf geachtet werden, dass keine bestehenden Beschäftigungsverhältnisse durch geförderte verdrängt werden«, mahnt die stellvertretende Direktorin des IAQ. Das sei eine alte Debatte, die früher bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine große Rolle ­gespielt habe.

Dem Ministerium zufolge soll im neuen Modell auch die Qualifizierung eine größere Rolle einnehmen, Unternehmen sollen dazu bewegt werden, die Angestellten für Fortbildungen freizustellen. Das begrüßt Weinkopf: »Der Bedarf ist da und das ist auch ein Schlüssel, damit die Leute perspektivisch im normalen Arbeitsmarkt wieder Fuß fassen können.« Sanktionen seien demgegenüber kein geeignetes Mittel, um Menschen zu motivieren. »Man muss stärker die Interessen, Kenntnisse und Fähigkeiten der Menschen in den Mittelpunkt stellen und nicht nur die Nachfrageseite, die sagt: ›Wir haben aber viele offene Stellen‹«, so Weinkopf.

Dennoch sollten sich Erwerbslose keine allzu großen Hoffnungen machen, dass sie auf dem sozialen Arbeitsmarkt nicht mehr von Hartz IV abhängig sein werden. »Der harte Kern wird über kurz oder lang in Hartz IV bleiben«, so das Ministerium. Für »Tacheles«-Vorstand Harald Thomé ist der soziale Arbeitsmarkt deshalb »noch schlimmer als das, was Müller will«. Schließlich gebe es dort keinerlei soziale Sicherheit. Die Debatte geht für Thomé am Thema vorbei: »Niemand redet darüber, ob Hartz IV reformiert wird und die Sanktionen abgeschafft werden. Wir reden nicht über die Entrechtung der Leistungsberechtigten durch die Jobcenter und auch nicht darüber, dass viel zu geringe Mieten an­erkannt werden.« Als Berater wundere er sich, »warum es nicht mal knallt«.