Die palästinensischen Proteste an der Grenze zu Gaza haben nicht unbedingt das Recht auf Rückkehr zum Ziel

Märtyrer für die Aufmerksamkeit

Erneut kam es am Freitag vergangener Woche zu Protesten am Grenzzaun zwischen Gaza und Israel. Dabei ging es nur vordergründig um die palästinensische Forderung auf ein Rückkehrrecht in heutiges israelisches Territorium.

Zurück im Zorn. Auf diese Formel lassen sich die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften im Gaza-Streifen in den vergangenen Tagen bringen – zumindest aus palästinensischer Sicht. Den zweiten Freitag in Folge rannten Zehntausende Palästinenser gegen die israelischen Grenzanlagen an, wobei insgesamt mindestens 25 von ihnen getötet und mehr als 1 500 verletzt wurden. Der »Marsch der Rückkehr«, wie die Führung der radikalislamischen Hamas das wöchentliche Spektakel nennt, soll bis zum 15. Mai andauern, dem sogenannten Nakba-Tag, dem »Tag der Katastrophe«, womit der Tag nach der Gründung des Staates Israels gemeint ist, in deren Kontext es zur Flucht und auch zu Vertreibungen von Palästinensern kam.

Zwar erschienen am Freitag vergangener Woche mit 20 000 Protestierenden ein Drittel weniger als die Woche zuvor, doch können die Organisatoren, darunter auch Vertreter der Hamas, mit den Ergebnissen zufrieden sein. Sie bekamen wieder einmal die gewünschten dramatischen Bilder: verzweifelte Palästinenser, die von der hochgerüsteten israelischen Armee niedergeschossen werden. Dabei war das Blutvergießen durchaus gewollt, wie die Rhetorik zeigt. »Wir folgen in unserem Widerstand dem Weg des Märtyrers Yassir Arafat«, so Yahya Sinwar, der seit Februar 2017 der Anführer der Hamas im Gaza-Streifen ist. Ferner erklärte er alle »Verschwörungen« gegen die Palästinenser für gescheitert, woraufhin die Anwesenden skandierten: »Wir ziehen nach Jerusalem, wir sind Millionen von Märtyrern.« Und friedlich waren die Demonstranten, die zu Tode kamen, nicht alle. Mindestens zehn von ihnen gehörten Terrororganisationen wie dem Islamischen Jihad an, waren bewaffnet und hatten versucht, gewaltsam die Grenzanlagen zu durchbrechen. Der israelischen Armee zufolge hätten an einer Stelle nahe der Grenze zwei Bewaffnete das Feuer auf die Soldaten eröffnet. Des weiteren seien Molotowcocktails geworfen worden und es habe Versuche gegeben, Sprengsätze an den Grenzanlagen zu befestigen.

 

Selbst eine Siebenjährige schickten die Organisatoren Richtung Grenzanlagen los. Israelische Soldaten konnten das Mädchen unverletzt abfangen und an ihre Angehörigen übergeben.

 

Zwar gelangte kein Protestierender auf israelisches Territorium, doch ist den Palästinensern mit ihren blutigen Protesten trotzdem etwas geglückt. Sie erhielten endlich wieder weltweite Aufmerksamkeit – den Märtyrern sei Dank. Deshalb war für sie der »Marsch der Rückkehr«, bei dem es offiziell um das Recht der Palästinenser geht, in ihre alten Dörfer im israelischen Kernland zurückzukehren, in erster Linie ein Marsch der Rückkehr in die Medien und als solcher ein Erfolg. Israel wird nun international kritisiert und UN-Generalsekretär Antonio Guterres fordert eine unabhängige Untersuchung der Vorkommnisse.

Dabei dreht sich alles weniger um den Konflikt mit Israel. Vielmehr stehen innerpalästinensische Rivalitäten im Vordergrund. Schließlich hatte sich der mit großem Tamtam im vergangenen Sommer eingeleitete Versöhnungsprozess zwischen den bitter verfeindeten al-Fatah im Westjordanland und Hamas im Gazastreifen wenig überraschend als Luftnummer erwiesen. Keine Seite wollte sich an irgendwelche Absprachen halten. »Aus Sicht der Hamas boten die Proteste den Menschen in Gaza zudem die Möglichkeit, ihrem Frust über die elenden Verhältnisse vor Ort endlich einmal freien Lauf zu lassen«, sagt der Sicherheitsexperte Avi Issacharoff.

 

 

 

»Der Zorn durfte sich gegen die Grenzanlagen, Israel oder die ›Besatzung‹ richten, nur nicht gegen die in Gaza herrschenden Islamisten, die für die Misere die Verantwortung tragen.« Dem greisen Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas im fernen Ramallah blieb nichts anderes übrig, als seiner Empörung über das »brutale« Vorgehen der Israelis gegen »friedliche Demonstranten« Ausdruck zu verleihen. Das Heft hat somit die Hamas in der Hand. Allein sie bestimmt die Eskalationsstufe.

Im Kampf gegen Israel ist der Hamas jedes Mittel recht. So hatte sie den »Marsch der Rückkehr« als regelrechte Familienveranstaltung organisiert, an der auch die Kleinsten teilnehmen sollten. Mit seinen Zelten und bunten Fahnen wurde das Ganze medienwirksam wie ein Festival inszeniert. Die Hamasführung bleibt wie immer außerhalb der Kampfzone. Auch gab es klare Anweisungen, sich zu maskieren und keine Mobiltelefone zu benutzen, um den ­Israelis eine Identifikation und Verfolgung von gewalttätigen Demonstranten zu erschweren.

Und wieder einmal wollte man den Tod von Minderjährigen in Kauf nehmen. Selbst eine Siebenjährige schickten die Organisatoren Richtung Grenzanlagen los. Israelische Soldaten konnten das Mädchen unverletzt abfangen und an ihre Angehörigen übergeben. Bilder von getöteten Kindern sind im Medienkrieg gegen Israel so etwas wie der Jackpot. Zuvor hatte die Hamas noch verkündet, dass Familien für jeden »Märtyrer« 3 000 US-Dollar erhalten würden. Verletzte könnten je nach Grad ihrer Verwundung mit 200 bis 500 US-Dollar rechnen. »Doch einen bewaffneten Konflikt größeren Ausmaßes mit Israel wollte die Hamas dann doch nicht provozieren«, erklärt Issacharoff. »Hätte man wirklich einen Grund gesucht, jetzt wieder Raketen auf israelisches Territorium abzuschießen, die Toten der vergangenen Tage wären dafür zweifelsohne geeignet gewesen.«

Aber einen erneuten Gaza-Krieg könnte die Hamas derzeit kaum stemmen. Denn finanziell ist sie am Ende, nachdem die Palästinensische Autonomiebehörde im vergangenen Jahr die Gehaltszahlungen an Beamte eingestellt hat und auch die Stromrechnungen an Israel nicht mehr beglich. Der »Marsch der Rückkehr« ist deshalb auch als ein Versuch Sinwars und seiner Verbündeten zu verstehen, sich dem Druck von Abbas zu widersetzen. Zudem haben die Islamisten bereits ihre Geldgeber in Katar verloren, weil Saudi-Arabien die dortigen Scheichs gezwungen hat, Gruppen, die wie die Hamas den Muslimbrüdern nahestehen, nicht länger zu unterstützen. Ägypten und Jordanien hegen ebenfalls keinerlei Sympathien für die Hamas.

»Vor allem Präsident Abd ­al-Fattah al-Sisi hat seine Geduld mit den Palästinensern verloren und kann ihre ewigen Beschwerden über jeden Siedler, der ihnen einen Olivenbaum gestohlen hat, nicht mehr hören«, sagt der Journalist Danny Rubinstein. »Er will einfach nur sicher sein, dass die Hamas IS-Terroristen aus dem Nordsinai keine Unterstützung oder Rückzugsmöglichkeiten gibt.« Und der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman hatte jüngst überraschend verkündet, dass die Israelis ein Recht auf einen eigenen Staat hätten – ungewöhnliche Töne für einen Potentaten in Riad. Wie viele andere sunnitische Herrscher in der Region sucht er das Zweckbündnis mit Israel gegen den Iran und dessen Expansionsbestrebungen. Von ihren arabischen »Brüdern« fühlen sich viele Palästinenser daher verraten und verkauft. Die große Nahost-Politik findet derzeit ohne sie statt – selbst in dem mysteriösen Friedensplan für die Region, an dem angeblich die USA, Israel und Saudi-Arabien derzeit arbeiten, sind sie keine Akteure mehr, sondern allenfalls Figuren auf einem Schachbrett.

Die derzeitigen Demonstrationen haben daher eine Botschaft: Wir sind noch da und politisch ernstzunehmen. Das soll auch die US-Regierung hören, da Präsident Donald Trump dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA, das einst exklusiv für die Palästinenser ins Leben gerufen wurde, die finanzielle Unterstützung gestrichen hat. Die UNRWA sei notorisch ineffizient, zudem verweigerten sich die Palästinenser allen Friedensverhandlungen, ­lautete seine Begründung. Nach der Ankündigung der USA im Dezember, ­Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und ihre Botschaft dorthin zu verlegen, war dies die zweite Maßnahme der US-Regierung, die von ­vielen Palästinensern als Schlag ins Gesicht gewertet wurde. Für ihre »Märsche der Rückkehr« in den kommenden Wochen hätten sie daher noch einige »Überraschungen« parat, hieß es seitens der Hamas. Was genau ihre Pläne sind, darüber kann man nur spekulieren. Verhandlungsbereitschaft dürfte nicht darunter fallen, obwohl das wirklich einmal eine Überraschung wäre.