Die Biographien von Sally Kaufmann und Mordechai Tadmor

Im Kampf um Israel

Der Vater kämpfte als Journalist gegen die Nazis und für eine sichere Heimstatt der Juden. Der Sohn kämpfte mit der Waffe in der Hand gegen die Wehrmacht. Die abenteuerliche Biographie des in Deutschland geborenen und nach Israel emigrierten Juden Mordechai Tadmor.
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Eine Kindheit in Kassel

Mordechai Tadmor wurde als Martin Kaufmann 1922 in Darmstadt geboren. In Deutschland war sein Rufname Martin, gute Freunde nennen ihn noch heute Motke. Eine Woche nach seiner Geburt kam Martin mit seiner Mutter nach Kassel, wo er auch aufwuchs. Die schönsten Erinnerungen an Kassel verbindet Mor­dechai Tadmor mit dem Gelände an der Martinskirche. Dort rauchte er seine ersten Zigaretten, sammelte im Frühling Maikäfer und verbrachte den Großteil seiner Zeit. Er erinnert sich: »Unser Stammplatz war die Anlage um die Martinskirche. Dort rauchten wir, trieben allerhand Unsinn und belästigten die Besucher. Ich war ein ziemlicher Gassenjunge.« Weil die Wohnverhältnisse sehr beengt waren, schlief er öfters zusammen mit dem Hofhund Tell in dessen Hundehütte. Er erzählt weiter: »Manchmal strichen wir um die Geschäfte und klauten aus den Aus­lagen – das ist nach mehr als 85 Jahren hoffentlich verjährt. Ich stibitzte hauptsächlich Süßigkeiten. Nicht für mich selbst, sondern für die Gruppe – sozusagen zur Bestechung, damit ich mit ihnen Fußball spielen durfte. Am liebsten aber ging ich allein in die Anlage an der Martinskirche. Dort saßen auf zwei Bänken alte Frauen und Männer, alle schwarz gekleidet, und sangen patriotische Lieder. Bruchteile dieser Lieder sind mir noch in Erinnerung.«

Als Zehnjähriger besuchte Martin das Kasseler Wilhelmsgymnasium. Die Zeit in diesem Gymnasium hat er in keiner guten Erinnerung behalten. »Als ich von der Jüdischen Volksschule in die Sexta des Wilhelmsgymnasiums wechselte, war ich dort der einzige jüdische Schüler und wurde sehr gequält. Ich war aber nicht lange an dieser Schule. Noch im laufenden Schuljahr wanderten wir nach Palästina aus. In dem Haus in der Kölnischen Str. 77, wo wir zuletzt wohnten, wohnte auch die Familie Ernst mit ihrem Sohn Günther. Dieser Junge ging mit mir in die Sexta des Wilhelmsgymnasiums. Seine Eltern verboten ihm den Umgang mit mir – ich war ihnen wohl nicht fein genug und dazu jüdisch –, und er war der Anführer der Hetze gegen mich. Manchmal frage ich mich, was aus ihm wohl geworden ist. Er war mein Jahrgang, 1922. Vielleicht standen wir uns ja in Tobruk, El-Alamein oder in Salerno gegenüber?«

 

Vom Kibbuz zur britischen Armee

Über Haifa gelangte die Familie nach Tel Aviv. An Martins Leben auf der Straße ändert sich auch in Tel Aviv zunächst nichts. »Ich habe es meinen Eltern nicht leicht gemacht«, meint Tadmor rückblickend. Damals war Martin zehn Jahre alt, rebellisch und aufmüpfig in der Schule, so dass er in Tel Aviv mehrmals die Schule wechseln musste. »Zunächst besuchte ich die Tachkemonischule. Sie lag an der Grenze zwischen dem damaligen Jaffa und Tel Aviv. Die Schüler kamen alle aus armen, zumeist orientalischen Familien. Alle anderen Einwandererkinder besuchten eine Schule im Norden Tel Avivs, die ihnen bei der Integration half. Meine In­tegration verlief anders. Als ich am ersten Schultag, sauber angezogen nach deutschem Muster, in der Schule eintraf, sorgte ich für eine Sensa­tion. Die Schüler versammelten sich um mich herum und droschen auf mich ein. Dabei schrien sie: ›Yecke Potz‹. Yecke ist der noch heute existierende Begriff für Juden deutscher Abstammung und Potz heißt Schwanz. Als ich mich wehrte, ließen sich die Angreifer zu Boden fallen und fingen an, jämmerlich zu schreien. Die Lehrer eilten herbei, und da war ich natürlich der böse Junge.« Es ging an dieser Schule nicht lange gut, aber auch an anderen Schulen machte er viele schlechte Erfahrungen.

»Als ich auf die landwirtschaftliche Schule Mikveh-Israel kam, wurde ich auf die Hagana eingeschworen. Wir lernten den Gebrauch von Waffen und Feldtaktik und in den Schulferien wurden wir an verschiedenen Orte verteilt, um die dortige Verteidigung gegen die aufständischen Araber zu verstärken. Die Schüler waren zumeist Bauernsöhne aus den Kolonien Tale Emek Jesreel oder ­Galilea. Sie waren harte Jungs, deren Ideale die der Beduinen waren, sie konnten auch deren Sprachen sprechen. Auch in dieser Schule wurde ich nicht gleich akzeptiert. Es wurde an der Schule viel Sport getrieben und Boxen nahm darin eine besondere Rolle ein, und um nicht ständig verprügelt zu werden, wurde ich, der Not gehorchend, schnell zu einem guten Boxer. So boxte ich in der Landesjugendliga im Leichtgewicht. Aber auch an dieser Schule machten wir oft Unsinn, und wenn wir erwischt wurden, musste natürlich ein Sündenbock gefunden werden und der war natürlich mal wieder ich, der ›Fremdling‹. So musste ich auch diese Schule nach zwei Jahren verlassen und als letzter Ausweg blieb der Kibbuz. Es gab für mich keine andere Möglichkeit mehr zu der Zeit. Ich war sozusagen gestrandet. Es ging also auch darum, Problemkinder wie mich von der Straße zu holen.

Ich war Mitglied in der Noar Oved, und meine Organisation wählte mich und einige andere Jugendlichen für den Kibbuz aus. Wir waren, glaube ich, damals 17 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 17 und 18 Jahren, die alle aus Tel Aviv kamen. Wir saßen zusammen in einem Bus, der nach Tiberias fuhr. Ich werde den Tag nie vergessen. Tiberias war damals eine bunte, lebendige arabische Stadt, es gab dort viele britische Soldaten, die im Jordantal stationiert waren, die Hitze des Jordantals und den blauen See von Genezareth, der mir nie wieder so blau und schön schien, wie an diesem Tage.

Die meisten Kibbuzniks waren damals mit dem Einsammeln von Steinen von Grundstücken beschäftigt, die später aufgeforstet wurden oder als Pflanzungen dienen sollten. Fast unter jedem Stein versteckte sich ein gelber Skorpion und man musste achtgeben, nicht gestochen zu werden. In der großen Hitze des Jordantals war das eine sehr harte Arbeit.

Einige andere Kibbuzmitglieder beschäftigten sich mit der Fischerei. Ich arbeitete für den Kibbuz als Fischer auf dem See Genezareth, so wie Petrus. Es war eine arbeitsreiche, aber auch wilde und romantische Zeit. Der Graben zwischen den arabischen und syrischen Fischern und Bauern auf der einen Seite und uns auf der anderen Seite war trotz andauernder Konflikte noch nicht so tief. Wir stritten zwar oft mit den arabischen Fischern um die besten Fanggründe, aber diese Konflikte gab es auch mit den Fischern vom Kibbuz Ginossar, die uns manchmal sogar die Netze zerschnitten.«

1940 mussten dann »Freiwillige« für die britische Armee aufgestellt werden, die in Nordafrika zunächst gegen die Truppen Italiens, dann gegen die Wehrmacht kämpften.

»Ich war 18 Jahre alt, unverheiratet und wurde als Freiwilliger vom Kibbuz ausgesucht. Es gab auch ein paar wenige Araber aus Palästina, die für die britische Armee rekrutiert wurden. Die aus unserer Kompanie desertierten alle«, erinnert sich Mordechai Tadmor.

»Als ich von der Jüdischen Volksschule in die Sexta des Wilhelmsgymnasiums wechselte, war ich dort der einzige jüdische Schüler und wurde gequält. Ich war aber nicht lange an dieser Schule. Noch im laufenden Schuljahr wanderten wir nach Palästina aus.« Mordechai Tadmor

Das Ziel der Wehrmacht war es, bis nach Palästina durchzustoßen. Von dort sollte es im Bündnis mit den antibritisch und judenfeindlich eingestellten und aufständischen Arabern aus Palästina, Syrien und aus dem Irak weiter nach Russland gehen. Die Wehrmacht begleitete ein von Walter Rauff geführtes SS-Kommando, das den Judenmord auch in Palästina (und in Nordafrika) organisieren sollte. Vor Tobruk wehrte Tadmor als »King George’s Soldier«, wie er sich selbst sieht, mit einem MG bewaffnet, deutsche Fliegerangriffe ab. »Dafür bekam ich später die ›Sil­berne 8‹ meiner Afrika-Medaille.«

(Auszeichnung für Angehörige der britischen Achten Armee; Anm. d. Red.) Doch erst im November 1942 konnten die britischen Truppen den Vormarsch der deutschen Truppen bei El-Alamein stoppen. Die jüdischen Kämpfer aus Palästina leisteten dazu einen Beitrag.

Über seinen Einsatz in Libyen erzählte Tadmor folgende Geschichte: »Wir erreichten Tripolis nach drei Jahren Wüste. Oft glaubten wir, wir hätten es fast geschafft, aber dreimal wurden wir auf halben Weg zurückgejagt. Doch nach Montgomerys Sieg bei El-Alamein, waren wir dann doch endlich am Ziel. Schon der Weg dahin war eindrucksvoll: Auf der Strecke von Derna nach Tripolis blühte alles, deswegen wurde die Gegend auch ›Djebel Achdar‹ genannt, also der ›Grüne Berg‹. Dort lebten italienischen Bauern, die von Mussolini dort angesiedelt wurden und die Gegend in einen Garten verwandelten.

Jahre nach dem Krieg, als Gaddafi die Macht übernahm, wurden sie verjagt und das Land wurde wieder zur Wüste, wo die Senussi-Beduinen ihr Unwesen trieben – und das tun sie ja bekanntlich heute noch. Tripolis war zu unserer Zeit eine schöne Stadt, erbaut im italie­nischen Stil, mit eindrucksvollen Gebäuden und nahezu unbeschädigt. Wie die Stadt heutzutage aussieht, muss ein Alptraum sein. Der Krieg war zu der Zeit, als ich dort stationiert war, schon ziemlich weit weg, nämlich an der Grenze zu Tunesien. Wir waren eingesetzt, um den Nachschub an die Front zu sichern, und so hielt sich unsere Belastung in Grenzen. Wir bezogen ein Camp am Stadtrand und richteten uns dort ein. Nur die nächtlichen Angriffe deutscher Bomber hielten uns auf Trab, aber das waren wir schon gewohnt. Unser Camp lag in der Nähe des Viertels Gargaresh, wohin die Italiener, seit der Verbindung mit Nazideutschland, die Juden von Tripolis verbannten. Das war also so eine Art von Ghetto. Wir organisierten sofort eine Art Gemeinschaftsleben, unterrichteten Hebräisch, lehrten hebräische Lieder und halfen, so gut wir konnten. Mit einem Mädchen war ich befreundet  – sie hieß Yolanda. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht, wir sahen uns nicht ­wieder.«

 

Ein Mann mit besonderen Aufgaben

Nach der Rückkehr arbeitete Tadmor zunächst ein paar Wochen im Hafen Tel Avivs. »Ich war im Hafen von Tel Aviv von September 1946 bis Oktober 1947 beschäftigt und wurde schon da in den permanenten Stab der Hagana integriert. Die Hafenleitung und der dort Zuständige für die Angelegenheiten der Hagana waren natürlich über meine Vergangenheit unterrichtet und teilten mich sofort ein, um die verschiedene Gruppen von Hafenarbeitern und Bewachungspersonal im Gebrauch von Waffen, in der Ersten Hilfe, in der Bewegung bei Nacht und so weiter zu unterrichten. Zusätzlich wurde ich eingesetzt, um von den Besatzungen der einlaufenden Frachter Waffen zu kaufen und diese an Land zu schmuggeln. Die Besatzungen wussten bereits davon. Sie brachten stets Waffen mit sich, hauptsächlich automatische Pistolen und einige Male auch Maschinenpistolen. Die waren alle noch in Einzelteile zerlegt und wir mussten sie dann zusammensetzen.«

In Deutschland war Mordechai Tadmor 1955 der erste israelische Korrespondent überhaupt. Er zeigte sich in dieser Funktion den Deutschen gegenüber erstaunlich nachsichtig. Sein Anspruch war es, möglichst objektiv über die junge Bundesrepublik zu berichten.

Hier lernte Tadmor Edith Retwitzer kennen. Edith wurde 1929 als jüngste Tochter der Familie Retwitzer aus Mannheim geboren. 1938, kurz vor der Pogromnacht, wanderten die Retwitzers gerade noch rechtzeitig aus Deutschland über Italien nach Palästina aus. Edith war in Tel Aviv in der Jugendbewegung der Hagana aktiv. Dort lernte sie Tadmor kennen; sie heirateten 1949 und sind bis heute ein Paar. Tadmor schlug währenddessen die Laufbahn eines Offiziers bei den IDF ein.

Als solcher wurde er 1954 auf eine Inspektionsreise zum israelischen Militärattaché in die Türkei geschickt. 1948 erließ David Ben-Gurion ein Edikt, dass Vertreter Israels im Ausland hebräische Namen tragen müssen. Tadmor erklärte mir seinen Nachnamen so: »Mein damaliger Chef, Oberst Harakabi, ein sehr gebildeter Mann, überlegte folgendes: Tadmor ist der Name für Palmyra und Palmyra ist eine Handelsstadt des Händlervolks der Nabatäer. Ergo: Aus Kaufmann machen wir ­einen Tadmor.« Und so flog Martin Kaufmann als Mordechai Tadmor auf seinen ersten Auslandseinsatz. Der nächste Auslandseinsatz führte ihn dann als Korrespondent der ­Jerusalem Post und für die Zeitung der Arbeiterpartei Davar zusammen mit seiner Frau Edith und ihren ersten Sohn Joav nach Deutschland.

In Deutschland war Mordechai Tadmor 1955 der erste israelische Korrespondent überhaupt. Er zeigte sich in dieser Funktion den Deutschen gegenüber erstaunlich nachsichtig. Sein Anspruch war es, möglichst objektiv über die junge Bundesrepublik zu berichten. Die unangenehmste Erfahrung, von der er ­erzählt, sei für seine Familie der kalte Winter 1955/1956 gewesen. Er lernte Franz Josef Strauß kennen, der damals mit Shimon Peres wichtige Waffenlieferungen für Israel organisierte. Auch mit Konrad Adenauer kam er in Kontakt. Adenauers Rolle in der Bundesrepublik sieht Mordechai Tadmor vor allem im Zusammenhang mit dem Luxemburger Abkommen bis heute weitgehend positiv: »Konrad Adenauer und David Ben-Gurion hatten den Mut und die ­Voraussicht, dieses schwierige Thema anzugehen und die Sache auch durchzuführen. Die Wiedergutmachung ermöglichte letztendlich den Aufbau und die Industrialisierung Israels.«

Mordechai Tadmor begleitete Adenauer auf einigen seiner politischen Termine und Wahlreisen. Davon erzählt unter anderem der Artikel »On the road with Adenauer« in der Jerusalem Post vom 15. September 1957. In diesem Artikel geht es um ein Gespräch mit Adenauer, das er auf einer Wahlkampfreise mit ihm führte. In dem Gespräch bekundet Adenauer, dass er große Hochachtung vor den Israelis habe, und bemerkte ferner, dass er ihren Mut in den jüngsten militärischen Auseinandersetzungen bewundere. Außerdem betonte er, dass er sich zur Freundschaft zu Israel bekenne. In diesem Gespräch merkte Mordechai Tadmor Adenauer gegenüber an, dass die Bewunderung des Mutes allein Israel im Kampf gegen die feindlich gesinnten Nachbarn wenig nützen würde. Dann sprach er seine Befürchtungen über die regen Waffenlieferungen der Sowjetunion an die ­arabischen Staaten an. Mordechai Tadmor schloss den Artikel mit der Bemerkung, dass es ein seltsam ­beunruhigendes Gefühl für einen Israeli sei, den deutschen Bundeskanzler bei seinen Wahlreisen so nahe gewesen sein zu dürfen.

Nicht ganz so gefährlich wie die sowjetischen Waffenlieferungen an die arabischen Staaten waren nach Meinung Mordechai Tadmors die Aktivitäten der in die arabischen Staaten ausgewanderten Nazis, vor allem Raketentechniker und in der Judenverfolgung erfahrene SS-Männer und ehemalige Gestapo-Leute. Während seiner Zeit als Korrespondent in Deutschland gehörte es zu Mordechai Tadmors Aufgaben, diese deutschen Männer und ihre Machenschaften zu beobachten. Zu diesem Zweck warb er unter dem Decknamen Dr. Martin ehemalige Wehrmachtssoldaten und Nazis an, die er dann nach Nordafrika und Ägypten schickte. Mordechai Tadmors tadelloses Deutsch, seine imposante Erscheinung, sein bis heute phänomenales Gedächtnis und die Erkenntnisse, die er aus in Nordafrika erbeuteten Tagebüchern deutscher Soldaten und einem Militärhandbuch der Wehrmacht gewonnen hatte, qualifizierten ihn für diese Arbeit. Durch eine Unachtsamkeit flog Tadmor auf; ein unzufriedener Mitarbeiter notierte sich damals das Kfz-Zeichen seines Wagens und bekam so die wahre Identität des Dr. Martin heraus. Die Deutsche Soldatenzeitung und andere Presseorgane machten die Geschichte öffentlich: »Militär-Spionage Israels aus Bonn – Nahosteinsatz der Gruppe ›Jerusalem-Post‹« titelte die Soldaten Zeitung und nannte ­seinen Klarnamen und Adresse. Tadmor und seine Familie wurde sofort nach Israel zurückbeordert. »Dies sollte mein einziger Fehler in meiner beruflichen Laufbahn bleiben«, bemerkte Tadmor zu den Räuberpistolen in den damaligen Zeitungen.

Die nächste Station war Wien, wo Mordechai Tadmor als Mordechai Elazar von 1962 bis 1966 für den diplomatischen Dienst Israels als Botschaftsrat arbeitete. Seine Aufgabe war es, Simon Wiesenthal beim ­Aufspüren von Nazis zu helfen. Es folgten weitere Einsätze für den ­diplomatischen Dienst Israels im Ausland. Zunächst von 1969 bis 1972 am Konsulat in Paris, danach führte es Tadmor wieder nach Deutschland. Zusammen mit seiner Frau Edith arbeitete er von 1978 bis 1982 für die Botschaft Israels in Bad Godesberg.

 

Sally Kaufmann: Herausgeber, Patriot, Zionist und Nazigegner

Mordechai Tadmors Vater, Sally Kaufmann, wurde 1890 als Sohn des Lehrers Markus Kaufmann und ­seiner Frau Bettina (geb. Katzenberg) in Ungedanken, einem kleinen Dorf in Hessen, geboren. Sally Kaufmann erlernte den Beruf des Kaufmanns. 1915 wurde er als Soldat eingezogen und im Juni 1916 an der Somme als Unteroffizier in die Schlacht gegen englische Truppen geschickt. Er hatte Glück im Unglück und überlebte schwerverletzt und als Träger des Eisernen Kreuzes das Gemetzel.

Nach längeren Lazarettaufenthalten und Tätigkeiten in verschiedenen Läden eröffnete er seinen eigenen Kolonialwarenladen in der Innenstadt Kassels. »Ich war nie im Geschäft meines Vaters, ich kannte auch nicht das Sortiment oder die Kunden«, erzählt Mordechai Tadmor, »oft, wenn viel Betrieb im Geschäft war, rief mein Vater meine Mutter zu Hilfe und sie ließ mich dann allein zurück. Sie sah oft sehr verbittert aus, lächelte nie und umarmte mich nicht. Ich glaube, es passte ihr nicht, die Frau eines Kolonialwarenhändlers zu sein. Später, als mein Vater die Jüdische Wochenzeitung herausgab und wir in die Kölnische Straße ­zogen, änderte sich die Lage. Wir waren irgendwie Prominenz. In der Gemeinde wurden wir respektiert.«

Tadmor erzählte, dass das Rollenverständnis des Vaters in der Familie stark von der Kaiserzeit und vom Soldatentum geprägt war. »Er war durch und durch Unteroffizier. Dass ich ihm zu gehorchen habe, war sein ständiges Credo.« Mit den Kindern redete der Vater nicht viel. Über seine politischen Ansichten und Tätigkeiten schon gar nicht. »Mein Vater war einfach da, ohne viele Worte zu verlieren. Sein ganzes Wesen drückte einen für ihn selbstverständlichen Patriotismus aus.

Seine Erinnerungen an das ›Feld‹, das Eiserne Kreuz, sein Silbernes Verwundetenabzeichen ­prägten sein Auftreten in der Familie.« Doch hinter dieser Fassade ­verbarg sich offensichtlich ein anderer Mensch. Sally Kaufmann war nach dem Krieg in der Kasseler Gruppe des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten (RjF) aktiv. Die hessische Gruppe des RjF sah ihre Aufgabe darin, im »antisemitisch verseuchten Kurhessen« die völkische Bewegung zurückzudrängen. In der zur Pogromen »aufreizenden Zeit« 1923 wurde auch ein Selbstschutz gegründet, der sich durch sein ener­gisches Auftreten Achtung bei den Gegnern verschaffte. 1927 wurde Sally Kaufmann als Beisitzer in den Vorstand des RjF Kassel gewählt. Die Treffen der Kasseler RjF-Gruppe fanden, so erinnert sich Tadmor, auch in der eigenen Wohnung statt. Auch in der Kasseler Zionistischen Gruppe war Sally Kaufmann aktiv. Am 24. Oktober 1925 wurde Kaufmann in den Vorstand der Kasseler Gruppe gewählt. Die Zionistische Gruppe trat dafür ein, eine jüdische Identität auszubilden und diese auch nach außen zu vertreten. Sie kritisierte die von vielen deutschen ­Juden vertretene Strategie der Assimilation. Eine wichtige Forderung der Zionistischen Gruppe war die »Erziehung eines von jüdischem Geiste und jüdischem Bewusstsein durchdrungenen Geschlechts«. Eine weitere Aktivität der Zionistischen Ortsgruppe bestand darin, junge Kasseler Juden für die Übersiedlung nach ­Palästina vorzubereiten, indem sie diese handwerklichen und land­wirtschaftlichen Berufen zuführte. So wird in einer Notiz in der Jüdischen Wochenzeitung am 30. Oktober 1925 darüber berichtet, dass fünf jü­dische Mädchen auf einem Gut der Firma Henschel in der Geflügelzucht ausgebildet werden konnten.

Die Autoren der Zeitung mischten sich mit ihren Beiträgen in die zeitgenössischen politischen Debatten ein. Die »Jüdische Wochenzeitung« ergriff dabei klar Partei für den Zionismus und bezog immer häufiger Stellung gegen den Nationalsozialismus.

Die wichtigste Tätigkeit Kaufmanns war jedoch das Herausgeben der Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck. Zunächst im Auftrag der Jüdischen Gemeinde, erschien sie erstmals am 4. April 1924. Später gründete Kaufmanns seinen eigenen Verlag; die Jüdische Wochenzeitung erschien dann in ­eigener Regie auch in anderen Städten, so unter anderem in Hannover, Braunschweig und Chemnitz. Die Publikation der Zeitung führte Anfang der dreißiger Jahre dazu, dass die Kaufmanns einen bescheidenen Wohlstand erlangen konnten, ein Haus kauften und dort eine gut eingerichtete große Wohnung bezogen. In der ersten Nummer der Zeitung umriss Dr. Joseph Prager, Sohn des damals prominenten Rabbiners Isaac Prager, die Programmatik der Zeitung. Vor dem Hintergrund des allgemeinen Zusammenbruchs und Niedergangs, in den er auch das jü­dische Leben in Deutschland mit einbezogen sah, sei ein Neuaufbau nötig sei. Die Zeitung solle dem Judentum dienen, für seine äußere Würde und Sicherheit eintreten und an der Vertiefung aller jüdischen ­Interessen mitarbeiten. Prager betonte, dass die Zeitung keiner Partei im Judentum dienstbar sein solle, vielmehr sollten alle Fragen behandelt und alle Nachrichten vermittelt werden, »die zu kennen für Juden jeglicher Partei wichtig sind«. Der Fokus sei auf die heimatlichen Ange­legenheiten, die Geschichte und das Wirken der örtlichen Gemeinden zu richten. Prager plädierte dafür, den Kampf gegen Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit aufzunehmen, und hoffte darauf, für diesen Kampf alle Parteien des Judentums zu gewinnen.

 

Die Autoren der Zeitung mischten sich mit ihren Beiträgen in die zeitgenössischen politischen Debatten ein. Die Jüdische Wochenzeitung ergriff dabei klar Partei für den Zionismus und bezog immer häufiger Stellung gegen den Nationalsozialismus. Es schrieben neben den Redakteuren auch berühmte Autoren wie Wolfgang von Weisel, Arnold Zweig, Theodor Lessing und Max Brod, aber auch nichtjüdische Autoren wie zum Beispiel Philipp Scheidemann und Heinz Pollack. Der Kasseler Historiker Dietfrid Krause-Vilmar schreibt über die Zeitung: »Politisch fällt die Nähe zur demokratischen Republik auf, die sich durch alle Jahrgänge (…) beobachten lässt.« Immer wieder wurden Aufrufe veröffentlicht und Leitartikel geschrieben, die die Leser eindringlich aufforderten, nicht nur zu den Wahlen zu gehen, sondern ihre Stimmen auch den demokratischen Parteien oder den republika­nischen Kandidaten zu geben.

In einem Artikel von 1927 anlässlich des Besuchs Chaim Weizmanns in Deutschland schreibt der Verfasser, bei dem es sich vermutlich um Kaufmann handelte: »Wir erachten es daher als Pflicht nicht nur der­jenigen Juden in Deutschland, die sich Zionisten nennen, sondern aller Juden, denen das Judentum Herzenssache ist und die den Bestand des Judentums für die weitere Zukunft sichern wollen, dass sie dem Appell Chaim Weizmanns Folge leisten und ihre Kräfte mit denen der Juden in der ganzen Welt vereinigen, um die Last des Palästinaaufbaus tragen zu helfen.« Auch vom 14. Zionistenkongress aus Wien berichtet die Zeitung enthusiastisch. Auch dieser Artikel kann mit einiger Sicherheit Sally Kaufmann zugeordnet werden: »Aus den (zionistischen) Ideen einzelner und den Forderungen, die eine kleine Zahl von Menschen vor 28 Jahren erhoben hat, sind inzwischen Realitäten geworden, die in der Welt der Tatsachen ihre Geltung ­gefunden haben. Die stärkste Realität ist das jüdische Palästina mit seinen wachsenden Städten, blühenden Kolonien, der auffallenden hebräischen Sprache und seinen arbeitenden Menschen. Diese Realitäten (…) sind die stärkste Grundlage für die weitere Existenz des jüdischen Volkes in der Gegenwart und (…) in der Zukunft.« Berichte über die Situation im damaligen britischen Mandats­gebiet Palästina und über die Bedeutung Eretz Israels für das Judentum nahmen großen Raum in der Zeitung ein. Der antijüdische Aufstand im Mandatsgebiet im Jahre 1929 und das in diesem Zusammenhang verübte Pogrom an den Juden in Hebron wurden mit großer Betroffenheit zur Kenntnis genommen. Auch die Umtriebe des Muftis von Jerusalem waren bei den Autoren in der Jüdischen Wochenzeitung immer wieder Thema. Die Haltung der KPD zu ­diesen antisemitischen Ausschreitungen wurde in einem kurzen Artikel deutlich kritisiert, der mit »Die Rote Fahne fordert die Kommunisten in Palästina auf, Schulter an Schulter mit den Arabern einen Vernichtungskampf gegen die Juden zu führen«, überschrieben war.

»Wir wussten, und das kam in unzähligen Gesprächen unter dem Wüstenhimmel zur Sprache: Dieser Krieg gegen Deutschland wird siegreich enden, und was
uns betrifft, so konnten wir nur hoffen, uns auf das Kommende gut vorzubereiten. Im Krieg gegen Nazideutschland sahen wir uns als Sieger. Unsere Sorgen galten der Zeit nach dem Krieg. Wir haben uns bekanntlich nicht geirrt.« Mordechai Tadmor

Besonderen Raum nehmen aber die vielen Berichte über die Angriffe von Nazis und ihren Sympathisanten in ganz Deutschland wie auch in Kassel und im Umland ein. Sie wurden laufend dokumentiert und thematisiert. 1926 druckte die Jüdische Wochenzeitung einen Artikel über den antisemitischen Antiquitätenhändler Edler von Dolsperg aus Kassel. Im Schaufenster seines Ladens am Ständeplatz hatte dieser einen illustrierten Bericht über die Ritualmordlegende ausgehängt. Es kam zur Anklage gegen den Händler. Dieser wurde von Roland Freisler, dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs, verteidigt, der vor Gericht mit wüsten antisemitischen Beschimpfungen auftrat, die er auch explizit gegen Kaufmann, den ­Herausgeber der Jüdischen Wochenzeitung richtete. Weitere Auseinandersetzungen mit Freisler und den örtlichen Nazis führten dazu, dass Kaufmann unmittelbar gedroht wurde: »Diesen Juden, S. Kaufmann, Hohentorstr. 9, wollen wir uns merken«, hieß es in einer örtlichen ­Nazizeitung.

Insbesondere diese Angriffe auf seine Person waren das zentrale ­Motiv für Kaufmann, Kassel 1932 zu verlassen. Kaufmann schrieb in ­einer biographischen Notiz im Zusammenhang seines Antrags auf Entschädigung als Verfolgter des Naziregimes: »Da ich während dieser Zeit mehrfache Kontroversen mit Roland Freisler hatte und auch in mehrere Prozesse mit ihm ver­wickelt war, wurde meine Stellung durch die stetige Entwicklung des Nationalsozialismus bereits vor 1933 hier in Kassel nicht mehr ­haltbar.«

Die Gefahr, die vom Nationalsozialismus ausging, war für Kaufmann schon vor 1933 absehbar. Er fand sich wie viele andere Anhänger der Republik mehr und mehr isoliert und musste sich als Jude ausgestoßen fühlen. Dadurch verlor er seinen Wohlstand, Deutschland, Nordhessen und Kassel als seinen Bezugs- und Identifikationspunkt, eine Heimat, die er in Israel paradoxerweise nie fand. Der Sohn sagt über seinen Vater: »Sein Leben hörte auf, als er Kassel verließ. Er war Zionist und auch ­aktiv, aber ich glaube, es war mehr ideologisch als praktisch. Denn als er mit der Wirklichkeit im Jishuw konfrontiert wurde, brach für ihn eine Welt zusammen.« In Israel vergrub er sich in sein Bücherantiqua­riat, das er dort mit wenig Erfolg führte und starb nach schwerer Krankheit 1956.

Es blieb dem Sohn vorbehalten, das Vermächtnis seines Vaters umzusetzen. So wie er als »King George’s soldier« seinen Beitrag in der jüdischen Brigade zum Sieg über den deutschen Nazifaschismus beisteuerte und damit auch die Juden in ­Palästina gegen die deutschen Vernichtungspläne verteidigte, so kämpfte er als Offizier zunächst der Hagana im Unabhängigkeitskrieg, dann für die IDF von Beginn an für die Existenz und Sicherheit Israels. Mordechai Tadmors Einheit sicherte 1948 die existentiell wichtige Versorgungslinie nach Jerusalem, die sogenannte Burma Road. Wie sein Vater in publizistischer Hinsicht gegen Nazis und für eine sichere Heimstatt der Juden eintrat, so tat dies sein Sohn mit der Waffe in der Hand. Ihm war schnell klar geworden, dass von der arabischen Seite nichts Gutes zu erwarten war. Die größenwahnsinnigen Pläne des Muftis von Jerusalem und seiner Verbündeten waren ihm und seinen Kameraden schon in der jüdischen Brigade bewusst. »Wir wussten, und das kam in unzähligen Gesprächen unter dem Wüstenhimmel zur Sprache: Dieser Krieg gegen Deutschland wird siegreich enden, und was uns betrifft, so konnten wir nur hoffen, uns auf das Kommende gut vorzubereiten. Mit anderen Worten: Im Krieg gegen Nazideutschland sahen wir uns als Sieger. Unsere Sorgen galten der Zeit nach dem Krieg. Wir haben uns bekanntlich nicht geirrt.«

Tadmor lebt heute mit seiner Frau in Giv’atajim.»Ich bin auch Ehrenbürger der Stadt Giv’atajim, aber Freude macht mir das angesichts des gegenwärtigen Zustands der Stadt leider nicht«, seufzt Tadmor in einem der Gespräche. Auf die großen Zeiten der israelischen Arbeiterpartei, ­deren letzter bedeutender Vertreter, Shimon Peres, 2016 starb, und erst recht auf die heroische Zeit der Kibbuzbewegung blickt er mit Wehmut zurück. »Ich bin ein Linker, ein Sozialist«, sagt er. Von der derzeitigen Regierung hält er nichts: »Als ehemaliger Gassenjunge verfüge ich über die passende Terminologie, aber die möchte ich Ihnen nicht zumuten.«

 

Der Text ist ein Auszug aus einem Vortrag, den Jonas Dörge am 30. Mai für die Deutsch-Israelische Gesellschaft halten wird. Kleine Synagoge, An der Stadtmünze 4–5, Erfurt. Beginn 18.00 Uhr

Der vollständige Text findet sich unter: ­https://schwerersand.files.wordpress.com/2016/06/ausschnitt.pdf