Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst ist für die mittleren Lohngruppen enttäuschend

Die Zahlen trügen

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Wie viel Geld die Beschäftigten mehr im Portemonnaie haben, ist wegen der komplexen Entgeltstruktur und der Mischung aus Festbetrag und prozentualer Lohnerhöhung fallabhängig. Zudem gilt es hier, auch weitere getrof­fene Vereinbarungen wie die Erhöhung der Nachtarbeitszuschläge im Krankenhausbereich, die Erhöhung der Anzahl der Urlaubstage für Beschäftigte in Wechselschicht oder die Angleichung der Jahressonderzahlungen in Ost und West zu berücksichtigen. Der schwer zu überblickende Abschluss reiht sich so ein in die Tarifverein­barungen der jüngeren Zeit, mit denen die verhandelnden Parteien versuchten, der komplexer werdenden Arbeitswelt gerecht zu werden. Auch die zuletzt abgeschlossenen Verträge in der Metallbranche und bei der Telekom bieten Regelungen, die auf ganz unterschiedliche Beschäftigtengruppen ­zugeschnitten wurden.

Obwohl der Abschluss prozentual weitaus höher liegt als in den vergangenen Tarifrunden, bleibt er hinter den Erwartungen vieler Streikender zurück. Auch wenn die Gewerkschaften ihn als Erfolg feiern – so spricht der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske vom »besten Tarifergebnis seit vielen Jahren« –, konnten sich die Arbeitgeber in wesentlichen Punkten durchsetzen. Insbesondere das erklärte Ziel der Gewerkschaften, die unteren Einkommensgruppen besserzustellen, wurde verfehlt. Durch die überdurchschnittliche prozentuale Erhöhung in vielen oberen Lohngruppen wird der Unterschied zwischen unteren und oberen Einkommen teils noch größer. Wie stark der Unmut an der Basis angesichts des verfehlten zentralen Streikziels ist, dürfte sich erst in der Mitgliederbefragung über die Annahme des Tarifvertrags zeigen.

Eine deutliche Verbesserung gelang hingegen für junge Beschäftigte. So ­erhöhen sich nicht nur die Ausbildungsvergütungen in zwei Stufen um 100 Euro, die Gewerkschaften konnten außerdem einen weiteren Urlaubstag für Auszubildende und Praktikanten und die tarifliche Eingliederung weiterer Ausbildungsberufe im Pflege- und Erziehungsbereich durchsetzen. Auszubildende, die bisher teils ohne Ausbildungsvergütung auskommen mussten, werden künftig nach dem Tarifvertrag für Auszubildende des öffentlichen Dienstes (TVAöD) bezahlt und erhalten etwa 1 000 Euro im Monat. Zudem wurde die erste Einstiegslohnstufe faktisch abgeschafft. Neueingestellte können sich so in der 30monatigen Laufzeit über eine Erhöhung ihres Einstiegsgehalts um zehn bis 13 Prozent freuen. Auch dies ist ein Schritt der öffentlichen Arbeitgeber, um in der Konkurrenz um qualifizierte Nachwuchskräfte nicht länger das Nachsehen zu haben.

Vom Tarifabschluss profitiert damit eine Gruppe, die die diesjährigen Streiks prägte. Es waren vor allem junge Menschen insbesondere aus den sozialen Berufen, die in den vergangenen Wochen für bessere Arbeits- und Lohnbedingungen auf die Straße gingen und mit einem medienwirksamen Vorgehen auf ihre Forderungen aufmerksam machten. Vielerorts ist es vor allem der Gewerkschaftsjugend zu verdanken, dass die Streikbeteiligung weitaus ­höher lag als von den Gewerkschaften erwartet und dass Seehofer sich so ­gezwungen sah, einen schnellen Abschluss zu forcieren.

Damit setzt sich eine Entwicklung der vergangenen zehn Jahre fort. Durch die wachsende gewerkschaftliche Einbindung der sozialen Berufe, die vor allem durch die Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst 2015 nochmals angestiegen ist, beteiligen sich mehr junge und weibliche Beschäftigte an Streiks im öffentlichen Dienst. Damit einher gehen auch Veränderungen im Arbeitskampf. Statt des lange Zeit üblichen Wechselspiels zwischen kurzzeitigen Warnstreiks und anschließenden Verhandlungen treten Beschäftigte selbstbewusst und nötigenfalls auch in Konfrontation mit den eigenen gewerkschaftlichen Verhandlungsführern für ihre Interessen ein.