Jurek Permantier, Aktivist der Refugee Law Clinic Berlin, im Gespräch über die Lage von Geflüchteten im »Hotspot«-Camp auf der griechischen Insel Samos

»Das Ganze gleicht einer Gefängnisinsel«

Jurek Permantier ist Mitglied der Refugee Law Clinic Berlin. Im März war er auf der griechischen Insel Samos, um dort Geflüchteten als Rechtsbeistand im Asylverfahren zu helfen.

In deutschen Medien wird kaum noch über Geflüchtete berichtet, die Griechenland erreichen. Die Route über die Türkei scheint unpassierbar. Trügt dieser Eindruck?
Nein. Durch das EU-Türkei-Abkommen wurde um den Preis einer humanitären Krise der Fluchtweg geschlossen. Er ist natürlich nicht ganz geschlossen. Es kommen trotzdem noch Menschen in Griechenland an, aber es sind zumindest nach Angaben der Europäischen Kommission 97 Prozent weniger als zu den Hochzeiten 2015.

Warum hat die Refugee Law Clinic Berlin entschieden, genau jetzt nach Samos zu gehen?
Über die Situation der Menschen auf Samos wurde in letzter Zeit nicht mehr berichtet. Wir haben deshalb Recherchen angestellt, wer nun eigentlich vor Ort ist, um Rechtsberatung zu machen. Daraus entstand die Idee.

Was genau haben Sie dort gemacht?
Wir machen hauptsächlich das Gleiche wie in Berlin: Wir bereiten die Menschen auf ihr Interview vor, den zentralen Teil des Asylverfahrens. Das Problem ist, dass auf Samos nur eine Handvoll Anwälte aktiv ist, die zudem nur mit dem Widerspruchsverfahren beschäftigt sind. Sie haben überhaupt nicht die Kapazitäten, um die Geflüchteten auf das Wichtigste vorzubereiten. Sie schaffen es »nur«, die Klagen oder Widersprüche zu bearbeiten, nachdem bereits eine Ablehnung erfolgt ist. Und wir machen praktisch alles davor.

»Das neue Urteil stellt hauptsächlich darauf ab, dass den Inseln und ihrer Infrastruktur die Belastung durch die Hotspots nicht zugemutet werden könne.«

Sie waren in einem der fünf Hotspot-Camps in Griechenland, in denen die Geflüchteten festgehalten werden, um wieder in die Türkei abgeschoben zu werden. Wie sieht es dort aus?
Das Camp liegt am Stadtrand der Stadt Samos, an einem unglaublich steilen Hang. Es hat Kapazitäten für 648 Menschen, faktisch leben dort gerade 2 800. Für die eigentlich eingeplanten 648 Menschen gibt es jeweils neun Quadratmeter große Container mit Doppelstockbetten für je drei bis vier Personen, alle anderen leben in Zelten. Diese wurden häufig von den Geflüchteten selbst mitgebracht, dar­über liegt dann eine Plane des UN-Flüchtlingswerks UNHCR. Es gibt auch Container für 40 Menschen, in denen sich jeweils vier Personen mit Filzvorhängen abgetrennte Bereiche teilen. Das ganze Camp ist geprägt von Mauern und Stacheldraht, zum Beispiel um den Sitz der Campleitung. Eigentlich ist Samos eine Touristeninsel, was zu einer seltsamen Situation führt: An der wunderschönen Hafenpromenade treffen Eis essende, sonnenbadende Touristen auf Geflüchtete, die hundertmal am Tag das Ufer entlanglaufen, weil sie nichts anderes machen können. Viele Geflüchtete, die bereits über Monate hier sind, isolieren sich aber auch im Camp und gehen gar nicht mehr raus. Das Ganze gleicht einer Gefängnisinsel – du machst nichts, du kommst nicht weg, du hockst nur herum.

Wie war die Zusammenarbeit mit den Behörden vor Ort?
Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass es zwei Asylbehörden gibt: Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) und die griechische Behörde Greek Asylum Service (GAS). Rein rechtlich darf das EASO nur Empfehlungen aussprechen, denen GAS dann regelmäßig folgt. De facto war es so, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des GAS bis Ende März im Streik waren, weil sie seit Dezember nicht bezahlt wurden. Nicht einmal ­besonders Schutzbedürftige, sprich Kranke, Schwangere oder Menschen mit posttraumatischer Belastungs­störung, konnten in dieser Zeit die Insel verlassen, obwohl die EU ihnen ­dieses Recht zusichert. Das EASO hat schon mit uns zusammengearbeitet, schließlich durften wir auch Anhörungen begleiten. Dort haben wir dann unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Manchmal bestand die Frage nach der Schutzbedürftigkeit nur aus einem simplen »How are you?«.

Vor kurzem urteilte der Oberste Gerichtshof Griechenlands, die Bewegungsfreiheit der Geflüchteten auf den Inseln dürfe nicht mehr eingeschränkt werden. Alle, die ab dem 17. April ankommen, sollen die Insel nun verlassen können. Hatte dieses Urteil bisher Auswirkungen?
Das Urteil hat mich zunächst auch positiv überrascht. Vor allem nachdem der Gerichtshof im September 2017 die Türkei zum sicheren Drittstaat für ­syrische Flüchtlinge erklärt und damit einen verheerenden Präzedenzfall geschaffen hat. Das neue Urteil stellt hauptsächlich fest, dass den Inseln und ihrer Infrastruktur die Belastung durch die Hotspots nicht zugemutet werden könne. Nur Neuankömmlinge dürfen nicht mehr auf der Insel festgehalten werden. Unsere Kontaktleute zur Refugee Law Clinic Athen meinten, dass das Urteil noch gar nicht in Kraft getreten sei. Zunächst einmal müsse es in ein Gesetz oder eine Verordnung überführt werden. Nach deren Einschätzung dauert das mindestens neun Monate.

In Reaktion auf das Urteil wurde am 24. April im griechischen Parlament ein Gesetzesentwurf diskutiert, der die Rechtsgrundlage für den Entzug der Bewegungsfreiheit ändern würde. Die neue Rechtsgrundlage wird sich wahrscheinlich formal an der passenden EU-Richtlinie orientieren, die Belastung der Infrastruktur auf den Inseln reduzieren und das Aufnahmeverfahren verändern. Somit wäre die Bewegungsfreiheit weiter eingeschränkt; um das zu ändern, müsste die neue Rechtsgrundlage zunächst wieder von einem Gericht gekippt werden. Auch der neue Leiter des griechischen Asylsystems hat eine Verwaltungsverordnung neu aufgesetzt, in der die Gründe für die Hotspot-Politik festgelegt sind. Die Gewährung von Bewegungsfreiheit würde ja das Ende des EU-Türkei-Abkommens bedeuten. Ich glaube, der Druck der EU auf Griechenland ist zu groß, um das Hotspot-System aufzu­geben.

Wie ist die humanitäre Situation im Camp auf Samos?
Schrecklich, die sanitären Anlagen zum Beispiel bestehen aus mobilen Toiletten. Die meisten Menschen leiden unter Schlafmangel wegen der psychischen Belastung oder schlicht unter Bettwanzen, Läusebefall oder Ratten. Dazu kommt dieser steile Abhang, an dem das Camp liegt, viele Ältere oder Schwangere können das Camp deswegen gar nicht verlassen. Generell ist es für Frauen im Camp ungleich schwerer: Wir haben mit vielen Frauen gesprochen, die unter Blasenentzündung leiden, weil sie sich nachts nicht trauen, aufs Klo zu gehen. Außerdem gibt es einen unglaublich hohen Kinderanteil im Camp. Die Arbeit mit Kindern, sei es Betreuung für die Kleinsten oder Schulunterricht, wird praktisch ausschließlich von NGOs außerhalb des Camps geleistet.