Die Literatur von Friederike Mayröcker

Mit einem feinen spitzen Stift

In »Pathos und Schwalbe« arbeitet Friederike Mayröcker weiter am Sprachgespinst ihrer poetischen Notizhefte.

Auch wer noch nie etwas von ihr gelesen hat (aber was heißt eigentlich »auch« sie hat weniger Leser als Nichtleser), kennt die Fotografien von Friederike Mayröckers Arbeitszimmer, auf denen die Autorin zwischen Tausenden von Zetteln, Papieren, Manuskriptseiten und Büchern wie auf einem Suchbild fast verschwindet. Meist werden diese Fotos als Embleme von Weltfremdheit und Exzentrizität verstanden, als lebe May­röcker in einem unzugänglichen, selbstgeschaffenen Universum, entrückt und aussichtslos verkramt: der Messie unter den Autoren der Gegenwart, aus der sie herausgefallen ist wie ein zerzauster Vogel aus dem Nest, höchstens mit Ernst Jandl an ihrer Seite, ihrem nicht minder skurrilen Lebensmenschen, mit dem sie von 1954 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 verheiratet war und der bis heute durch ihre Texte klingt. Einem Publikum, das alles anhimmelt, was irgendwie freakig und eigenbrötlerisch rüberkommt, müsste so etwas eigentlich gefallen.

Wenn Mayröcker unter kreativen Allerweltskünstlern trotzdem völlig unbekannt ist, hat das einen einfachen Grund: Sie schreibt zu gut. Sprache ist ihr kein Mittel identitärer Selbstdarstellung, Literatur keine Vehikel zum Transport engagierter Postwurfsendungen.

Ihre Texte, auch wenn sie böse sind, schreien den ­Leser nie an, ihr Witz ist von einer staubgewebhaften Feinheit, die vor dem selbstironischen Schenkelklopfertum sozial vernetzter Depravierter keine Sekunde Bestand hätte. In Wahrheit kommt an Mayröckers Arbeitszimmer zum Ausdruck, was das Lebenselement ihrer Sprache ist. Ihr Werk ist getragen von einer übergenauen, unermüdlichen und trotzdem geduldigen Fähigkeit des Registrierens, der Absorption noch der ephemersten Erfahrungen. Alles, was die Wahrnehmung einfängt, findet in den sprachlichen Konfigurationen einen Ort, noch das Heterogenste hat bei ihr miteinander zu tun, jeder Satz zielt aufs Intimste und darin aufs Einfachste, Allgemeine. Gelesenes und Gehörtes, Bemerkungen von Freunden, Kindheits- und Liebeserlebnisse, Namenskürzel und Widmungen, Tagesereignisse, Phantasien und Träume verspinnen sich zu Texten, die die viel postulierte Phrase vom Ende des Subjekts dementieren, indem sich die sie erzeugende Subjektivität in ihnen verliert, begegnet und als verwandelte wiederfindet.

Für ihre Arbeitsweise, in der Momente lyrischer Verdichtung, erzählerischer Darstellung und szenisch-dramatischer Anschaulichkeit zusammenkommen, hat Mayröcker im Laufe der Zeit wechselnde Gattungsbezeichnungen gefunden: »Larifari« oder »Traumlexikon«, »poetische Texte« oder »Kabinett-Notizen«, »Fusz­noten« (Das scharfe S schreibt Mayröcker durchgehend als sz aus) oder »Poesiealbum«, und schließlich »Magische Blätter«, die seit 1983 in bislang sechs Lieferungen erschienen sind. Alle ihre zahllosen Einzelver­öffentlichungen ähneln sich, ohne dass sich doch jemals der Eindruck der Wiederholung oder Entwicklungslosigkeit einstellt. An ihrem neuen Prosaband »Pathos und Schwalbe« lässt sich daher ebenso gut wie an jedem anderen vorführen, warum sich so schwer sprechen lässt über das, was Friederike Mayröcker schreibt.
Wie bei den meisten ihrer Prosawerke gibt es einen konkreten, im Text nur bruchstückhaft gegenwärtigen Erfahrungshintergrund. Den

Sommer 2015 hatte die 90jährige in einem Krankenhaus verbringen müssen, ohne Zugang zu ihrem Arbeitszimmer, ihren Büchern und Notizen. Trotzdem hat »Pathos und Schwalbe« nichts von einer Krankengeschichte. Der erste Satz ist programmatisch in Klammern gesetzt: »(indes ich 11 Wochen in Klostergarten und Krankensaal)«. Zahllose Krankenhausdetails werden im Folgenden verwoben, es kommen eine Schwester Ingrid, eine Therapeutin Connie und ein Oberarzt M. vor, Untersuchungsergebnisse sind wie graue Tupfer der Empirie in den Text gesprengt (»Blutdruck 198 : 70«, »linkes Knie röntgenisieren«), aber sie können sich nicht durchsetzen gegen das dichtere, farbigere Gespinst einer Sprache, die ihre apokryphen Realien von wer weiß woher bezieht: »Die Fingernägel zerrissen, die Haare zerwühlt, Swedenborg / Wässerchen, Vaters Lapislazuli-Ring im Spind ehe er ins Krankenhaus, durchflutete Stretta sogar, die Wundmale. (…) Ich beobachte wie die Kinder im Klostergarten die Tauben jagen, mit Hasz etwa?, der letzte Tag mit Gottesgaben, …… ins graugrüne Becken in der Mitte des Klostergartens eingetaucht. Letzte Mode: man stülpt ein Leibchen über das andere, Tödin im Hain = Raucherbaracke, erzählt lebhaft von ihrer Krankengeschichte, (…) immer wieder sinkt mein Blick ins ­Rosarium Connie küszt mich zum Abschied der lauwarme Frühstückskaffee wird aufgetragen, zwischen halb 8 und 8 erwarte ich deinen Anruf, ›Kokerei und Zweizeiler‹ schreibe Zweizeiler für Connie: so blau dein Auge : wie / Immergrün!«

Der Lyrik ist diese Prosa darin ähnlich, dass an ihr die Unterscheidung von Bedeutendem und weniger Bedeutendem, Rahmen und Zentrum, zusammenbricht. Zwar lässt sich aus den Worten eine Art Szene konstruieren: Das Ich steht mit zerwühlten Haaren am Fenster und beobachtet Kinder, die im Klostergarten Tauben jagen, es denkt an Swedenborg und den Vater, während jemand von seiner Krankheit erzählt, die Schwester gibt der Kranken einen Kuss, Kaffee wird gebracht, ein Vertrauter wird die Kranke anrufen, und sie schreibt einen Zweizeiler für die Pflegerin. Doch eine solche Rekonstruktion erklärt den Text nicht. Wie sehen zerrissene Fingernägel aus? Wer ist das Du, das immer wieder durch die Rede geistert: reale Person, vergegenwärtigte Vergangenheit, Phantasie? Der Name Swedenborg verweist auf die Theosophie, Lapislazuli gilt als Stein mit heilender und beschützender Kraft. Ein Rosarium ist ein künstlerisch angelegter Rosengarten, ein Hain ein künstlich angelegtes Wäldchen. Als Stretta werden die Aktfinale in Opern des 18. und 19. Jahrhunderts bezeichnet, Zweizeiler stehen für sich und haben weder Auftakt noch Ende. Die Tödin ist in der ägyptischen Mythologie Begleiterin des Todes, Immergrün symbolisiert das ewige Leben. Ein Leitmotiv der Passage ist der Übergang von Anorganischem ins Organische (der lebenspendende Stein, Holz und Kohle, das Leibchen und der Leib, die Wunde, die im Mal endet wie die Oper in der Stretta), ein anderes der von ­Natur in Kunst (Klostergarten und Rosarium, Pflanze und Gedicht). Dass die Tödin von ihrer Krankengeschichte erzählt, also selbst vergänglich zu sein scheint, erweist sich erst vor dem Hintergrund als der Witz, der es ist.

Als »luzides Traumbewusztsein« wird an anderer Stelle die Fähigkeit beschrieben, Splitter gegenwärtiger und vergangener Wirklichkeit, Vorstellungen, Lektürespuren und Erinnerungen durch Kappung von Geschichte und Kontext zu einem sprachlichen Feld anzuordnen, das nur der eigenen Logik folgt. Mit »­einem feinen spitzen Stift«, »zitternd der Blutstropfen an der Spitze«, schreibt das Ich seine »DENKBLÄTTER«, deren inneres Gesetz der Zweizeiler, die Widmung, das Motto und das synkopierte Zitat sind, Formen, die keine Entwicklung im Sinne des organischen Kunstwerks kennen, aber dennoch dem Ausdruck, dem Austausch mit geliebten An­deren, der Revokation von Erinnertem dienen. Der feine spitze Stift trennt und zergliedert wie das Messer des Chirurgen, der Blutstropfen an seiner Spitze zeigt an, dass das Lebendige seine Ausdrucksform und sein Medium ist. Die Form des Notizbuchs hält die Unabgeschlossenheit des Geschriebenen fest, ohne dass die Texte improvisiert wirken würden. Im Gegenteil, trotz beständiger Hinweise auf die verrinnende Zeit (das den Sprachfluss unterbrechende »etc.« hält die Notwendigkeit des Abbrechens und Auslassens fest) gehen in jeden Satz so viele unausgesprochene Voraussetzungen, so viele übersprungene Vermittlungen ein, dass diese Prosa sich wie ein ausgeführtes Rätsel liest, ohne hermetisch zu sein: Das alles lässt sich, wenn der Leser Zuwendung und Konzentration mitbringt, ohne Symbollexikon und Germanistikstudium mögen.

Gegen Ende des Bandes, aus dem Krankenhaus entlassen, erzählt das Ich, wie es aus seiner Hand »eine Grube oder ein Grab« macht und die »Morgenmedikamente« hineinschüttet: »statt einer Schaufel Erde schüttete ich eine Schaufel Tabletten in meine Hand«. Die Hand, die schreibt, ist die Hand, die in sich selbst begräbt, was das Ich zum Weitererleben brauchte. Sie ist Bild der doch noch geretteten Selbstmächtigkeit des Subjekts. Dieses hat, indem es schreibend sich selbst verlor, die Welt überlistet, die aus ihm ein ­Vergängliches, Austauschbares machen will.

 

Friederike Mayröcker: Pathos und Schwalbe. Suhrkamp, Berlin 2018, 268 Seiten, 24 Euro.