In Armenien gibt sich die Protestbewegung mit dem Sturz des Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan nicht zufrieden

Stur wie Samt

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Die junge Generation von Armenierinnen und Armeniern hatte sich bereits davor in zivilem Ungehorsam geübt. Nach 2008 und vor allem seit #ElectricYerevan, den Protesten gegen steigende Energiepreise im Jahr 2015, fand ein allgemeiner Politisierungsprozess statt. Gruppen und Bewegungen setzten sich mit Themen wie sozialer Ungleichheit, Geschlechterfragen, Antimilitarismus, Stadtentwicklung, Menschenrechten und Ökologie auseinander.

»Unsere Stärken sind dezentrale Organisation und Gewaltfreiheit. Wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Als wir uns immer nur an einem Ort versammelten, waren wir angreifbar und unsere Vorgangsweise war berechenbar. Dieses Mal wusste kaum jemand Bescheid, wo in der Stadt gerade Aktionen stattfinden«, erzählt Karapetjan. »Wir wussten, dass wir gegen die Staatsgewalt nur eine Chance hätten, wenn wir ihr keinen Grund zum Einschreiten geben. Durch Mindestvorgaben wie Gewaltfreiheit erreichten wir eine enorme Anschlussfähigkeit und ein Maximum an Anwendungsmöglichkeiten des zivilen Ungehorsams.«

Auch die Beteiligung von Frauen sieht Karapetjan als essentiell für den Erfolg der Proteste: »In weiten Teilen des Protests hatten wir ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Frauen ­organisierten sich selbst und planten eigene Aktionen. Sie stellten damit Rollenvorstellungen und auf den Kopf und brachen Tabus. Ich hoffe, dass diese kleinen Veränderungen nicht wieder einer patriarchale Grundhaltung weichen werden.« Nicht nur Frauen, sondern auch alle sexuellen Minderheiten erlangten bei den Protesten Stimme und Akzeptanz, fügt sie hinzu. »Dieses Mal hatte ich den Eindruck, dass gemeinsam gekämpft wird, ohne die ­jeweilige Geschlechts- oder Gruppen­identität in Frage zu stellen.«

Zumindest bis zum 8. Mai werden die Proteste anhalten. Dann wird das Parlament ein weiteres Mal versuchen, einen Ministerpräsidenten zu wählen. Scheitert die Abstimmung erneut, wird das Parlament nach den Bestimmungen der Verfassung aufgelöst und es werden vorgezogene Neuwahlen angesetzt. Wird Paschinjan gewählt, verspricht er als Übergangsministerpräsident ebenso Neuwahlen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Im ersten Fall wird der gesamte Wahlprozess von der regierenden RPA kontrolliert – und deren Wahlbetrug hat Methode. Der Politikwissenschaftler Edgar Vardanjan geht daher nicht von freien und fairen Bedingungen aus.

Paschinjan hingegen will als Ministerpräsident erst die Wahlgesetzgebung ändern, um Manipulationen zu verhindern. Auch hier könnte sich die RPA dank ihrer absoluten Mehrheit querstellen, doch der Druck der Proteste ist hoch. »Die Republikaner haben bereits jeglichen Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Die Bewegung wird nur einen Sieg akzeptieren. Freie und faire Wahlen sind ihr Minimalziel«, meint Vardanjan. Zudem fordert die »samtene Revolution« Gewaltenteilung, ein Ende der systematischen Korruption sowie die Sicherstellung von fundamentalen Grundfreiheiten und sozialen Rechten.

Auf dem Weg zu einer freieren und demokratischeren Gesellschaft müssen die Armenierinnen und Armenier einige Hindernisse überwinden. Zusätzlich zu den internen politischen und sozialen Problemen bergen der anhaltende Konflikt mit Aserbaidschan um das Gebiet Bergkarabach und die allgemeinen politischen Spannungen in der Region eine hohe Eskalationsgefahr. Risiken lauern auch in der Protestbewegung selbst: Mittlerweile haben sich nationalistische Gruppierungen sowie Oligarchen den Protesten angeschlossen und wollen sie für ihre Zwecke nutzen. Auch der Personenkult um Paschinjan wächst. Vardanjan hat jedoch großes Vertrauen in die Protestbewegung: »Die politische Kultur in Armenien hat sich grundlegend verändert. Die Zivilgesellschaft ist kritisch und selbstbewusst. Ich bin ich zuversichtlich, dass sie eine neu gewählte Regierung um Paschinjan unter Druck setzen wird und unter Kontrolle halten kann.«