Small Talk mit Robert Lüdecke von der Amadeu-Antonio-Stiftung über die umstrittene Zahl der Opfer rechtsextremer Gewalt

»Eklatant große Lücke«

Die Berliner Polizei stufte kürzlich sieben zwischen 1992 und 2001 begangene Tötungsdelikte nachträglich als rechtsextrem motiviert ein. Bundesweit zählte das Bundeskriminalamt 83 Todesopfer rechtsex­tremer Gewalt seit 1990, während die Amadeu-Antonio-Stiftung mittlerweile auf 193 Todesopfer sowie zwölf Verdachtsfälle kommt. Die Jungle World sprach mit Robert Lüdecke, dem Sprecher der Stiftung.
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Zu den Opfern der nun als rechtsextrem eingestuften Morde zählen ein Obdachloser, ein Arbeitsloser, eine Prostituierte und zwei als »Alkoholiker« diffamierte Männer. Wie erklären Sie sich, dass die Polizei die Morde an den genannten Personen bislang nicht als rechtsextrem motiviert erfasst hatte?
All diese Menschen gehörten Personengruppen an, die von der Mehrheit der Gesellschaft abschätzig behandelt und abgewertet werden. Solche Menschen sind eine typische Opfergruppe von Rechtsextremen. Und sie haben keine Lobby. Wenn es zum Mord an einer solchen Person kommt, gibt es in der Regel niemanden, der den Zeigefinger hebt und sagt, dass da noch einmal genauer hingeschaut werden müsse. Bei Wohnungslosen gibt es zudem leider meistens auch keine Angehörigen, die eine genauere Prüfung des Falls einfordern könnten.

Unter den Opfern waren auch zwei Neonazis. Rechtsextreme Morde an Rechtsextremen – ist das nicht ein Widerspruch?
Es gibt unter Rechtsextremen einen starken szeneinternen Zusammenhalt, einen starken Korpsgeist. Die Szene ist stark militärisch geprägt. Jeder, der die Szene anzweifelt, wird potentiell zum Feind erklärt, weil er über Insiderwissen verfügt und die Szene verraten könnte. Szeneinterne Gewalt ist nicht untypisch. Aussteiger werden durch die ganze Republik gejagt. Die Öffentlichkeit erfährt davon allerdings nur selten.

Nach Polizeiangaben gab es in Deutschland seit 1990 – die neu bewerteten Fälle eingeschlossen – 83 rechtsextreme Tötungs­delikte. Wie bewerten sie diese Zahl?
Mit der nachträglichen Anerkennung einiger Morde in Berlin und zuvor auch in Brandenburg bewegen sich die staatlichen Zahlen langsam in Richtung der Zahlen, die wir dokumentieren. Die Lücke ist allerdings noch immer eklatant groß. Dass nun mehr Fälle als rechtsextrem motiviert anerkannt werden, ist ein wichtiges Zeichen für die Hinterbliebenen der Opfer. Die Betroffenen wollen wissen, warum ihr Freund oder ihr Vater sterben musste.

Warum werden so viele der von Ihnen als rechtsextrem motiviert eingestuften Fälle bislang nicht als solche anerkannt?
Das liegt daran, dass wir andere Kriterien haben als die Behörden. Diese gehen davon aus, dass nur dann von einem rechtsextremen Mord gesprochen werden kann, wenn ein menschenfeindliches Motiv tatauslösend gewesen ist. Wir registrieren dagegen auch solche Fälle, in denen rassistisches Gedankengut tateskalierend gewirkt hat. Wenn Rechte zu Gewalt greifen, neigen sie aufgrund ihrer menschenverachtenden Ideologie sehr stark dazu, in einen Rausch zu geraten. So kann aus ­einer Tat, die »nur« als Körperverletzung intendiert war, schnell ein Mord werden. Außerdem berücksichtigen wir viel stärker die Betroffenenperspektive. Wenn Hinterbliebene sagen, dass eine Tat rechtsextrem oder rassistisch motiviert gewesen sei, nehmen wir das sehr ernst. Besonders dann, wenn es sich beim Täter nicht um den typischen Nazi handelt. Die Polizei ermittelt sehr täterorientiert. Sie vergisst oft, dass man kein geschlossenes rechtes Weltbild haben muss, um eine rassistische Gewalttat zu begehen. Auch Alltagsrassismus kann zu Gewalttaten führen.