Malte Meyer, Autor, im Gespräch über das Verhältnis von Gewerkschaften zum Militär in Deutschland

»Alles andere als Wehrkraft­zersetzung«

In seinem Buch »Lieber tot als rot« dekonstruiert Malte Mayer den Mythos, Gewerkschaften seien Teil der Friedensbewegung gewesen. Ein Gespräch
Interview Von

»Friedenspolitik war in vergangenen Jahrzehnten für die Gewerkschaftsbewegung zentrales Anliegen«, behauptete der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, Anfang März in einem Interview. Sitzt er damit einem Mythos auf?
Als ehemaliger Verdi-Funktionär wiederholt er eine Standardfloskel aus ­gewerkschaftlichen Sonntagsreden und wahrscheinlich tut er dies auch wider besseren Wissens. Die DGB-Spitzen haben die Kriegseinsätze der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien und in Afghanistan abgesegnet und hatten faktisch auch gegen die Remilitarisierung deutscher Außenpolitik seit 1990 nichts einzuwenden. Die IG Metall ist in der Rüstungsbranche ein zuverlässiger Verteidiger von Standortinteressen. Und auch Verdi betreibt als Interessenvertretung von Bundeswehrbeschäftigten alles andere als Wehrkraftzersetzung. Das Ausmaß an Integra­tion in den Staatsapparat wird durch solche Aussagen über eine angeblich antimilitaristische »Gewerkschaftsbewegung« nur vernebelt.

Warum hält sich trotzdem so hartnäckig die Vorstellung, Gewerkschaften seien Teil der Friedensbewegung?
Natürlich gibt es zu dem Thema ganze Passagen in gewerkschaftlichen Grundsatzdokumenten und wortradikalen Sonntagsreden, ganz zu schweigen von Gewerkschaftsfahnen auf den Ostermärschen oder lokalen Veranstaltungen zum Antikriegstag am 1. September. Ich finde aber auch, dass man die Leichtgläubigkeit von Teilen des Publikums nicht unterschätzen sollte: Wer – wie zum Beispiel der Kölner DGB – einen Hashtag wie »#No2Percent« (gegen den Nato-Beschluss, die Militärausgaben auf zwei Prozent des Brutto­inlandsprodukts zu erhöhen, Anm. d. Red.) verbreitet, spricht sich eben zunächst einmal nur gegen Aufrüstungspläne aus. Gegen die Bundeswehr, das derzeitige Niveau der Militärausgaben oder auch UN-mandatierte Kriegs­einsätze ist mit so einer Kampagne noch gar nichts gesagt. Im Gegenteil: Solche monströsen Sachen werden von denselben Menschen für unabänderlich erklärt.

Was hat Sie motiviert, mit dem Buch »Lieber tot als rot« diesen Mythos zu dekonstruieren?
Unmittelbarer Anlass war 2013 das Ansinnen der damaligen DGB-Führung, zu einer neuerlichen gemeinsamen ­Erklärung mit der Bundeswehr zu kommen. Als für die antikapitalistische Praxis wenig hilfreich empfand und empfinde ich aber auch die Bereitschaft vieler Linker, kritische Einsichten gegen etwas einzutauschen, was man früher vielleicht als Gewerkschafts­illusion bezeichnet hätte.

Eine radi­kale Linke, die sich regenerieren möchte, darf sich eben nicht an die Ge­werkschaftsapparate dranhängen, ­sondern muss sich – theoretisch wie praktisch – einen eigenständigen Zugang zu Klassenauseinandersetzungen erarbeiten.

»Deutsche Gewerkschaften: Teil der Friedensbewegung oder ›Organe des imperialistischen Staates‹?« spitzen Sie auf dem Klappentext Ihre Fragestellung zu. Gibt es da keine Grautöne?
Sicherlich stimmt, was ein Befreiungstheoretiker einmal gesagt hat: Es gibt korrupte Leute in integren Organisationen genauso wie es integre Leute in korrupten Organisationen gibt. Dieser Sinn für real existierende Widersprüche verpflichtet aber noch lange nicht dazu, sich die sozialdemokratischen Gewerkschaften oder den kapitalistischen Staat schönzureden. Beide Institutionen sind letztlich nicht dazu da, die bestehende Eigentumsordnung zu beseitigen, sondern sie zu konservieren und möglichen Schaden von ihr abzuwenden. Allen, die sich ernsthaft für die erste Zielsetzung interessieren, dürfte mit nüchterner Lagebeurteilung besser gedient sein als mit mehr oder weniger raffinierter Gewerkschaftsideologie.

»Gewerkschaften und kapitalistischer Staat sind letztlich nicht dazu da, die bestehende Eigentumsordnung zu beseitigen, sondern sie zu konservieren und möglichen Schaden von ihr abzuwenden.«

Sie zitieren Rosa Luxemburg, die während des Ersten Weltkriegs vom »Sieg der Gewerkschaftsbeamten« schrieb. Was meinte sie damit?
Luxemburg hat ganz klar gesehen, wie bereitwillig die Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg der imperialistischen Kriegsmaschinerie zuarbeiteten. Als sie vom »Sieg der Gewerkschaftsbeamten« sprach, meinte sie: Die anfänglich leichte Mobilisierbarkeit großer Teile der deutschen Arbeiterklasse für den Krieg war auch ein Ergebnis langjähriger gewerkschaftlicher Schulungsarbeit. Deren heimlicher Lehrplan habe – typisch deutsch, könnte man sagen – darin bestanden, die Organisa­tionsdisziplin zu verabsolutieren und für Vertrauen in die Weisheit der Führungen zu werben. Autonomie, Eigeninitiative und kritische Auseinandersetzung mit Autoritäten sind unter diesen Bedingungen unterentwickelt geblieben.

Was ist von Rosa Luxemburgs vor allem in den letzten Lebensjahren geäußerter Gewerkschaftskritik heutzutage noch brauchbar?
Sie kritisierte die Gewerkschaften nicht nur in ihren letzten Lebensjahren. Die Einsicht, dass Arbeiterorganisationen nicht Produzentinnen, sondern Produkte von Klassenkämpfen sind, hat sie bereits in der Massenstreikdebatte formuliert und damals auch schon vor dem strukturellen Konservatismus des gewerkschaftlichen Beamtenapparats gewarnt. In der Burgfriedensko­alition des Weltkriegs hat sie dann eine neuartige Form bürgerlicher Herrschaft erblickt. Als wichtigstes Problem erschien ihr aber immer deutlicher der Untertanengeist, den viele Mitglieder der Arbeiterorganisationen gerade in Deutschland an den Tag legten. Bekanntlich konnte Luxemburg diese aus meiner Sicht sehr interessanten An­sätze einer antiautoritären Gewerkschaftstheorie nicht weiter ausführen. Aber ihr Schüler Jacob Walcher zum Beispiel hat am »Roten Gewerkschaftsbuch« mitgearbeitet.

Gibt es neben Rosa Luxemburg weitere Autorinnen und Autoren, die sich ähnlich zur Politik der Gewerkschaften geäußert haben?
Die gab und gibt es, ganz klar. Neben den klassischen Rätekommunisten fallen mir bezogen auf die deutsche Gewerkschaftsgeschichte spontan vor ­allem Achtundsechziger wie Hannes Heer oder Karl Heinz Roth ein. Für meine Überblicksdarstellung waren ihre Fallstudien zur gewerkschaftlichen Querfrontpolitik Anfang der dreißiger Jahre beziehungsweise zum Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner überaus wertvoll. Aber auch der ehemalige SDS-Vorsitzende und DFG-VK-Mitbegründer Helmut Schauer hat Ende der sechziger Jahre den Beitrag der Gewerkschaften zum Kampf gegen die Notstandsgesetze aus meiner Sicht zutreffend bilanziert, als er von einer »halbierten Opposition« der Gewerkschaften sprach.

Sie beschäftigten sich mit den großen Gewerkschaften ADGB und DGB. Gilt Ihre Kritik auch der anarchistischen und kommunistischen Opposition?
Meine Kritik gilt tatsächlich auch verschiedenen Varianten parteikommunistischer Praxis innerhalb der Gewerkschaften und ich will wirklich nicht so tun, als sei der gewerkschaftliche Antikommunismus völlig gegenstandslos gewesen. Als die UdSSR im Juni 1953 die Arbeiterunruhen in der DDR militärisch niederschlug, verspielte sie ja nicht nur den Rest dessen, was der Parteikommunismus an antimilitaristischem Kredit vielleicht noch besaß, sondern untergrub auch den Einsatz westdeutscher Kommunistinnen und Kommunisten gegen die Remilitarisierung. Mit ihrer prinzipiellen Skepsis gegenüber Parteidisziplin, Staat und Militär waren anarchistische Oppositionelle für mich dagegen eher eine Inspirationsquelle.

Ziehen Sie aus Ihrem Buch den Schluss, dass die DGB-Gewerkschaften kein Feld für antimilitaristische Po­litik sein können?
Ich stelle ihre parastaatliche Integration und Formierung fest und ziehe daraus die Konsequenz, dass Bündnispolitik von links sich über Sinn und Zweck dieser Organisationen unbedingt im Klaren sein sollte. Die Förderung antimilitaristischer oder antikapitalistischer Umtriebe gehört nach meiner Einschätzung jedenfalls nicht dazu. Wer seine politischen Energien nicht vergeuden will, sollte derlei Dinge von den Gewerkschaften folglich auch nicht erwarten, sondern besser nach geeigneteren Mitteln und Wegen Ausschau halten.