Die Zahl der Straftaten nimmt ab. Die gefühlte Unsicherheit vieler Menschen steht dazu in keiner Relation

Angst haben und Angst machen

Während die Zahl der Straftaten sinkt, verschärfen die Bundesländer die Polizeigesetze. Denn je sicherer das Land wird, umso gefährdeter fühlen sich die Angstbürger.

Geht es nach der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), war Deutschland im Jahr 2017 so sicher wie seit der so­genannten Wiedervereinigung nicht mehr. Die Zahl der registrierten Straf­taten ging demnach im Vergleich zum Vorjahr um 9,6 Prozent zurück. Insgesamt erfassten die Behörden 5,76 Millionen Delikte – der niedrigste Wert seit 1992. Besonders stark war der Rückgang bei Diebstählen (11,8 Prozent) und Wohnungseinbrüchen (23 Prozent). Gestiegen ist die Zahl der Rauschgiftde­likte (9,2 Prozent) und der Sexualdelikte, wobei bei letzteren ein Vergleich mit früheren Jahren wegen mehrerer 2017 wirksam gewordener Gesetzesverschärfungen ein verzerrtes Bild ergäbe.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der die Zahlen Anfang Mai verkündete, relativierte sie jedoch sogleich wieder. »Zur Entwarnung gibt es keinen Anlass«, sagte er. Seehofer will offenbar die derzeit grassierende Kriminalitätsparanoia nutzen. Seine Landeskollegen setzen in Bayern und Sachsen gerade Polizeigesetze durch, die besser zu autoritären Regimes passen als zu liberalen demokratischen Rechtssaaten.

Da nicht sein kann, was nicht sein darf, strickte etwa Die Welt aus der gesunkenen Gesamtkriminalität am 8. Mai folgende Schlagzeile: »Mehr linke Gewalt, Judenhass und Kinderpornos in Deutschland«. Das Blatt für den Auto­tuner mit Abitur vergaß nach der As­soziationskette Linke-Antisemitismus-Kindesmissbrauch nicht, darauf hinzuweisen, dass die Zahl rechter Gewalt­taten laut PKS um 33,5 Prozent zurückgegangen sei, während »linke Gewalt« um 15,6 Prozent zugenommen habe.

Diese »neue Dimension linker Gewalt« sei vor allem auf die Randale um den G20-Gipfel in Hamburg zurückzuführen, behauptete Seehofer, freilich ohne zu erwähnen, dass diese Gewalt sich oftmals in verstauchten Fingern von Polizisten manifestierte, die zu fünft Demonstrantinnen und Demonstranten zu Boden gerungen hatten. Rechnet man Vorfälle bei den G20-Protesten aus der Statistik, ist die Zahl linker Gewalttaten nahezu konstant ge­blieben.
Dass Rechtsextreme 2017 seltener zu Gewalt griffen als in den Jahren zuvor, ist angesichts der Umstände wenig verwunderlich: Die bürgerliche Politik übernimmt häufiger rechte Positionen,  etwa in Form einer verschärften Abschiebepolitik, die Normalisierung rechtsextremen Gedankenguts schreitet vor allem durch die Etablierung der AfD voran. Rechtsextreme können sich in mancher Hinsicht verstanden fühlen.

Trotz der faktischen Sicherheit leben die Deutschen aber in Angst, und die haben sie nicht vor den Nazis. Eine Studie der R + V-Versicherung ergab Ende 2017 folgendes Bild: 71 Prozent der insgesamt 2 400 befragten Personen fürchten sich vor Terrorismus; 61 Prozent vor dem Zuzug von Ausländern; jeweils 58 Prozent vor Schadstoffen in Nahrungsmitteln und den Kosten der europäischen Schuldenkrise; 56 Prozent vor Naturkatastrophen.

Die größten Angsthasen leben dieser Studie zufolge in Bayern, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Besteht die Mehrheit der Deutschen also aus geizigen und xenophoben Irren, die Angst davor haben, ausländische Terroristen könnten ihnen die Lebensmittel vergiften oder den Himmel auf den Kopf fallen lassen?

Wenn die Mehrheit der Deutschen sich fürchtet, haben Minderheiten in Deutschland allen Grund, Angst zu haben. Es muss nicht gleich Krieg und Völkermord bedeuten, aber man wird schon mal ein bisschen üben, um wieder in die rechte Stimmung zu kommen. Menschen in »Ankerzentren« zu internieren, könnte hierbei die Bevölkerung, die nicht nur
in Deutschland dringend wieder ein Volk sein will, schon mal warmlaufen lassen.

Eine wichtige Aufgabe haben dabei Politiker jener Parteien, die zur rechten Zeit rechte Politik machen, damit, so der Vorwand, die Rechten nicht an die Macht kommen. Wie jede Verschärfung von Straf-, Fremden- und Asylrecht, jede Quälerei von Arbeitslosen und jede menschenrechtswidrige endlose Einker­kerung psychisch kranker Straftäter­innen wird auch die Errichtung von Internierungslagern, die nach dem Wunsch des unvermeidlichen Polizeigewerkschafters Rainer Wendt mit »Videoüberwachung und Zäunen« ausgestattet werden sollten, die neuen Rechten nicht schwächen, sondern weiter stärken. Die CSU und mit ihr wohl auch die CDU, die FDP, sehr große Teile von SPD und Grünen und, weil eh schon alles egal ist, auch der Linkspartei, greifen dennoch rechte Ideen auf. Sie sollten einen Blick nach Ungarn wer­fen. Viktor Orbán hat seine einst liberale Partei Fidesz so weit nach rechts gerückt, dass die rechtsextreme Partei Jobbik gar nicht regieren muss, um große Teile ihres Wunschprogramms verwirklicht zu sehen. Wozu man Nazis von der Macht fernhalten sollte, wenn der Preis dafür die eigene Mutation zum Faschisten ist, wäre die Preisfrage, für deren Lösung es einen Urlaub am Plattensee zu gewinnen gibt. Auf einem Campingplatz. Neben sächsischen Cam­pern.
Gedanken wie diese sind keine, die sich bürgerliche Politikerinnen und Politiker machen würden, weswegen die nächsten Strafrechtsverschärfungen trotz rückläufiger Kriminalität so sicher kommen werden wie das »so sad« am Ende eines missbilligenden Tweets von Donald Trump.

Bei einer solchen Eskalation der staat­lichen Gewalt ist nicht leicht zu entscheiden, was da Henne ist und was Ei. Auf den ersten Blick wollen Politiker damit punkten, das verbreitete Strafbedürfnis in der Bevölkerung zu befriedigen. Doch bekommen die sadistischen Impulse der Bevölkerung erst dann Schwung und Macht, wenn die Angstbürger ihre Vorurteile von vielen Politikern und Medien wohlwollend be­stätigt bekommen. Wo keine Politikerinnen, keine Intellektuellen und keine Journalisten mehr sind, die sich auszusprechen trauen, dass Sicherheit in einem demokratischen Rechtsstaat nicht nur Sicherheit durch die Polizei, sondern auch Sicherheit vor dieser bedeutet, sind Bürgerrechte nur mehr so lange gewährleistet, bis dem nächsten Populisten der nächste Anschlag auf diese Rechte einfällt.

Angst haben und Angst machen, Straf­bedürfnis und Strafrechtsverschär­fung – beide verstärken sich wechselseitig, bis am Ende die Skrupellosen ganz oben schwimmen und die Moralischen zum Schweigen gebracht sind.
 Wer nun meint, solch gegenseitiges Hochschaukeln des Destruktiven läge am »postfaktischen Zeitalter«, der setzt voraus, es hätte einmal ein »faktisches« gegeben. Wann soll das gewesen sein? Facebook-Blasen und Twitter-Stress sind nicht die Ursachen für den Realitätsverlust wachsender Teile der Bevölkerung. Nicht einmal die Boule­vard­medien sind schuld daran, obwohl sie sich alle Mühe geben. Diese Faktoren können nur wirken, weil sie auf etwas stoßen, das schon vorhanden ist, weil die Angstmacherei mit der weit ver­breiteten Angstlust korrespondiert.