Das Thesenpapier der Linkspartei bedient sich migrationsfeindlicher Argumente

Migration als soziale Praxis ist Normalität

Das »Thesenpapier zu einer human und ­sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik« der Linkspartei bedient sich der Argumente der Migrationsgegner. Für die Partei ist es eine Frage der künftigen Ausrichtung ihrer Politik.

Die derzeitige Migrationsdebatte ist gezeichnet von Irrationalität und Überhitzung. Das Thesenpapier, das einige Abgeordnete der Linkspartei kürzlich präsentierten, wollen die Verfasser ­offensichtlich als eine Art Gegengift verstanden wissen: vernünftig, rational, progressiv, nur eben orientiert am Machbaren.

Tatsächlich aber bringen die Abgeordneten um den Hamburger Fabio De Masi nicht die neue Sachlichkeit in die Debatte, die sie für sich reklamieren. Sie greifen an entscheidenden Stellen problematische Narrative auf und formulieren sie mit linkem Anspruch, entsprechend werden sie rezipiert.

Grundsätzlich verkennen die Autorinnen und Autoren den Charakter von Migration. Ihre Grundannahme dazu lautet, dass es immer einen »Push-Faktor« gibt: etwas, das die Menschen forttreibt. Diese Faktoren seien zu identi­fizieren und politisch zu bearbeiten.

Die Vorstellung von Migration als Reaktion auf ein Übel ist mit jener der EU-Kommission, der FDP oder der AfD kompatibel.

Gelänge dies, blieben die Menschen zu Hause. Diese Vorstellung von Migration als Reaktion auf ein Übel (in der linken Lesart gern: deutsche Waffenexporte, unfaire Handelsbeziehungen, Imperialismus, Klimawandel und Ähnliches) ist ohne weiteres mit jener der EU-Kommission, der FDP oder der AfD kompatibel. Sie alle wollen »Fluchtursachen bekämpfen«, damit die Menschen nicht mehr fliehen. Diese Vorstellung ist auch ein zentraler Punkt in dem kürzlich bekannt gewordenen »Fairland«-Papier, das möglicherweise eine Programmskizze für die neue »Sammlungsbewegung« von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht ist.

Für viele Linke ist das eine geradezu weltabgewandte Position. Migration als soziale Praxis ist, global gesehen, der Normalfall. Sie war und ist es in Europa, Afrika, Asien oder Amerika. Die Menschen wandern mit Klimawandel und ohne, mit unfairem Handel und ohne, mit deutschen Waffenexporten und ohne. In weiten Teilen der Welt wird das akzeptiert. Linke sollten genau das klarmachen und dafür streiten, dass Migration als sozialer Normalfall auch hier angenommen wird, statt die irrige Fluchtursachenratio zu verbreiten.

Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass Linke Armut, Klimawandel, Waffenexporte oder unfairen Handel bekämpfen wollen.

Doch das wird die Migration auf der Welt nicht beenden. Es ist unredlich, so zu tun, als sei dies anders.

Die Verfasserinnen und Verfasser verweisen auf Bewegungen im globalen Süden, etwa in Lateinamerika, die aus nachvollziehbaren Gründen für das Recht eintreten, »nicht flüchten oder auswandern zu müssen«. Mit ihnen wollen sie kooperieren. Warum auch nicht? Doch in ihrem Papier wird der globale Süden mit Verweis auf diese Bewegungen als Kronzeuge dafür hergezogen, dass der Mensch an sich nicht migrieren will und irgendetwas falsch läuft, wenn er es doch tut.

Auch im globalen Süden gibt es starke Bewegungen, die für Migration kämpfen und etwa kontinentale Freizügigkeit in Afrika und Lateinamerika etablieren wollen. Vor allem diejenigen in Afrika könnten Unterstützung aus Europa gut gebrauchen, weil es die EU ist, die ihre Pläne derzeit torpediert.

 

Doch die falsche Grundannahme, Migrationsursachen könnten beseitigt werden, ist nicht das einzige Problem an dem Papier. In ihm finden sich durchaus plausible, diskussionswürdige und auch unstrittige Passagen. Aber in der zuletzt von Leuten wie dem CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt vergifteten Debatte wird es keinen Eindruck hinterlassen, dass die Verfasser »Dublin« oder die Behauptung von »sicheren Herkunftsstaaten« »überwinden« wollen. In den Köpfen wird Folgendes zurückbleiben:

Erstens: Migranten seien eine Konkurrenz für die hiesigen Beschäftigten, weshalb diese vor Migration geschützt werden müssen. (»Wandern in großer Zahl Geringqualifizierte ein, wird dies unter den gegenwärtigen Bedingungen die Konkurrenz und den Lohndruck (…) erhöhen.«) Die Aufgabe der Linken wäre es, dafür zu sorgen, dass diese Konkurrenz eben nicht dadurch entsteht, dass Migranten überhaupt zu Dumpinglöhnen beschäftigt werden können.

Zweitens: Migranten seien eine Gefahr für die Sicherheit. Lang und breit ist in dem Papier die Rede davon, dass unter den Migranten Menschen sein könnten, die »Kriegsverbrechen«, »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, »Menschen- oder Waffenhandel« verübt haben oder bei denen »begrün­deter Terrorismusverdacht« bestehe. Die Aufgabe der Linken wäre es, klarzumachen, dass viele Flüchtlinge vor ­genau solchen Leuten fliehen, und sie vor Generalverdächtigungen, die die Innenminister dieser Republik aussprechen, in Schutz zu nehmen.

Drittens: Migration sei ab einem bestimmten Ausmaß »dem weniger privilegierten Teil der Gesellschaft« nicht mehr »vermittelbar«.

Die Schlussfolgerung wird nicht explizit gemacht, ist aber klar: Ist der »weniger privilegierte Teil der Gesellschaft« der Meinung, es gebe zu viele Migranten, wendet er sich der AfD zu. Linke sollten es als ihre Aufgabe betrachten, genau diese Vermittlung zu leisten, statt die Ablehnung von Migration als gegeben hinzunehmen. Der ehemalige Parteivorsitzende Gregor Gysi wurde auf diversen Veranstaltung immer wieder danach gefragt, ob die Flüchtlinge denn kein Problem gerade für arbeitslose und arme Deutsche seien. Er antwortete den Fragenden stets: »Ging es Ihnen denn besser, als weniger Flüchtlinge da waren?« Viel mehr Vermittlungsarbeit war oft nicht nötig.

Viertens: Migration sei schlecht für die Herkunftsländer (brain drain), die Migranten seien an Ort und Stelle für die nachhaltige Entwicklung ärmerer Länder dringend nötig. Die großen Entwicklungsinstitutionen sehen das anders: Für sie überwiegen die positiven Effekte von Migration als Motor von Entwicklung. Auch hier sind die Verfasser des Thesen­papiers in Gesellschaft von FDP und Konser­vativen: Auch sie behaupten gern, dass es wegen des brain-drain im Sinne armer Länder sei, Migration zu unterbinden.

Fünftens: Nur die Stärksten kämen durch, weshalb die ungesteuerte Migration auf eine »Privilegierung kleiner mobiler Minderheiten« hinauslaufe, die dadurch »individuelle Wohlstandsmaximierung« betreibe. Wer das schreibt, hat offensichtlich kaum je mit irregulären Migranten zu tun gehabt. Alle Erfahrung zeigt: Der Wunsch, Geld zurückzuschicken, ist in der Regel die Antrieb ihres Handelns. Nicht ihr »individueller Wohlstand« wird »maximiert«, vielmehr wird das meist bescheidene Einkommen, das sie erzielen, in aller Regel kollektiviert.

Die Verfasser bestätigen mit ihrem Papier diejenigen, die von Migration ohnehin nichts halten. Welche Wirkung solche Aussagen auf die öffentliche Debatte haben können, zeigt ein Satz aus Oskar Lafontaines Rede im Juni 2005 in Chemnitz: »Der Staat ist verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter ihnen zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen.« Ähnliches hatte die NPD auch schon öfter gesagt. Dass Lafontaine von »Fremdarbeitern« sprach, blieb in Erinnerung, ebenso wie Sahra Wagenknechts wohlkalkulierte Rede vom »verwirkten Gastrecht« oder von angeblich »geholten« Ärzten aus Niger. So wird es auch diesmal sein.

Ähnlich wurde seinerzeit vor der EU-Osterweiterung und der damit verbundenen Freizügigkeit gewarnt. Schlimme Folgen sind bekanntlich ausgeblieben, obwohl das Wohlstands­gefälle weiterhin hoch ist. Zudem tun die Verfasser des Papiers so, als stünde gerade zur Abstimmung, alle Grenzen zu öffnen, so dass jeder, der will, nach Deutschland kommen dürfe. Das Gegenteil ist der Fall, und das wissen die Abgeordneten der Linkspartei ganz genau. Wenn es nur darum gegangen wäre, realpolitische Vorschläge zur Migrationspolitik zu unterbreiten, hätten sie sich darauf beschränken können. Stattdessen arbeiten sie sich an einer Maximalforderung ab und werten dabei ohne Not Kernargumente der Migrationsgegner auf.

Ihre Gründe dürften strategischer Natur sein. Es ist unklar, welche Perspektiven die Partei hat. Für die EU-Wahl 2019 ist die Bewegung DiEM25 um den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der die Parteivorsitzende Katja Kipping nahesteht, als »Kooperationspartner« im Gespräch. DiEM25 will die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten auflösen. Genau das lehnen die Abgeordneten in ihrem Thesenpapier jedoch ab. Zugleich weiß niemand, welches Gewicht eine mögliche »linke Sammlungsbewegung«, für die Lafontaine und Wagenknecht werben, in Zukunft haben könnte. Der Parteiflügel um Kipping, der sich für eine offene Migrationspolitik stark macht, könnte in die Defensive geraten. Gut möglich, dass die Verfasserinnen und Verfasser da rechtzeitig zeigen wollen, auf wessen Seite sie stehen.