1913 riefen Berliner Arbeiterinnen einen Gebärstreik aus

Sie haben abgetrieben

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Zum Gebärstreik aufgerufen hatten die sozialdemokratischen Arbeiterärzte Julius Moses und Alfred Bernstein. Sie kannten nicht nur die schwierigen Bedingungen, unter denen die Arbeiterinnen ihre Kinder gebären und erziehen mussten. In einem durch Abtreibung und Verhütung verkleinerten Proletariat sahen sie auch eine Gefahr für den Kapitalismus. »Der Geburtenrückgang, wie er jetzt eingeleitet ist, der trifft den Kapitalismus an seinem Lebensmark. Wenn wir die Ausbeutungsobjekte nicht rekrutieren, wenn wir das Heer nicht vermehren, dann ist der Kapitalismus am Ende«, sagte Bernstein auf der zweiten Veranstaltung in der »Neuen Welt«.
Dass es bereits zuvor unter den Arbeiterinnen weit verbreitet war, das Kinderkriegen zu verweigern, dokumentieren Interviews, die der Arzt und Sexualwissenschaftler Max Marcuse 1912 mit 100 verheirateten Arbeiterinnen aus dem Berliner Norden geführt hatte. 29 der befragten Frauen gaben insgesamt 54 Abtreibungen an. Eine Frau gab zu Protokoll: »Ich lasse meinen Mann überhaupt nicht mehr zu mir. Er will mich deswegen schon rausschmeißen, aber das ist mir ganz egal.«

Ein Schwangerschaftsabbruch stand damals noch unter Strafe. Im Kaiserreich drohte Frauen, die abgetrieben hatten, eine Zuchthausstrafe bis zu fünf Jahren. Wer ihnen die entsprechenden Mittel dazu zur Verfügung gestellt oder ihnen bei der Abtreibung geholfen hatte, musste mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus rechnen.

Bürgerliche Frauen konnten es sich leisten, einen Arzt aufzusuchen, der den illegalen Eingriff zu einem hohen Preis vornahm. Arbeiterinnen waren dagegen auf günstigere Methoden angewiesen – etwa die Ausspülung mit ­einer Seifenlösung. Die dazu benötigte sogenannte Mutterspritze war für die Frauen kostenlos, weil der Arzt sie ihnen gegen Unterleibserkrankungen verschreiben konnte. Eine Sozialdemokratin, die ab 1919 im Berliner Stadtteil Wedding als Fürsorgerin gearbeitet hatte, berichtete der zu dem Thema forschenden Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann: »Faßseife – das war das Billigste. Das hatte jede Frau in der Küche, weil sie ihre Wäsche damit gewaschen hat. Die Konzentration der Seife hatte zum Effekt: Abtötung der Frucht – der Abort durch Verätzen. Der Durchschnitt der Ar­beiterfrauen wurde in der Regel 36 bis 38 Jahre alt. Sie waren verletzt oder unterleibskrank. So nannte man es damals: unterleibskrank durch viele ­Aborte.«

Zwischen 1900 und 1912 fiel die Geburtenrate im Kaiserreich um fast 25 Prozent. Vor allem nationalkonservative Politiker und Militärs beklagten einen angeblichen Verfall der Sitten und sahen Deutschlands nationale Größe bedroht. So behauptete Wilhelm Freiherr Knigge, Reichstagsabgeord­neter der Deutschkonservativen Partei, 1913 im Reichstag, dass nur das Land »anderen Völkern seinen Willen« aufzwingen werde, das »über die meisten gescheiten Köpfe, über die meisten kräftigen Arme und über die meisten moralischen Werte verfügen« könne. Wenn »Frauen nicht mehr stolz darauf sind, einem Kind das Leben geschenkt zu haben«, sei Deutschland »dem Untergange geweiht«.

Empirisch begründet war die damals kursierende Angst vor dem »Volkstod« nicht. Die Sterbeziffer war deutlich schneller gesunken als die Geburtenrate. Zwischen 1872 und 1907 war die Bevölkerungszahl im Kaiserreich von 45 auf 61,5 Millionen Menschen angestiegen. Abtreibung und Verhütung wurden dennoch stärker verfolgt als zuvor. Die Zahl der Verurteilungen gemäß den 1872 eingeführten Abtreibungsparagraphen stieg von 411 im Jahr 1900 auf 976 im Jahr 1910. 1914 waren es bereits 1 755 Verurteilungen. ­Bereits 1900 war der sogenannte Unzuchtparagraph um einen Absatz ergänzt worden, demzufolge der Handel mit Verhütungsmitteln und Reklame für sie mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden konnten. Einzige straffreie Ausnahme: Präservative.

In dieser Situation kam es zu einer ungewöhnlichen politischen Allianz. Die SPD-Führung hatte sich bereits früh von Bernsteins und Moses’ Forderung nach einem Gebärstreik dis­tanziert. Unterstützung erhielten die beiden Arbeiterärzte von Syndikalisten aus dem Umfeld der Wochenschrift Der Pionier aus dem Hause der »Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften«. Nach den Veranstaltungen in der »Neuen Welt« veröffentlichte der Fritz-Kater-Verlag, in dem auch Der Pionier erschien, Bernsteins Broschüre »Wie fördern wir den kulturellen Rückgang der Geburten? Ein Mahnruf an das ­arbeitende Volk«. Der Anarchosyndikalist Max Winkler bezeichnete die »bewusste Geburteneinschränkung« in Der Pionier als »Teil der direkten Aktion gegen das Ausbeutertum und den Klassenstaat«, der sich nicht in »die gesetzlich-parlamentarischen Bestrebungen der Sozialdemokratie« einreihen lasse.

Ohne Rücksicht auf Klassenkampf und direkte Aktion sagte damals einzig die sozialdemokratische Frauenrecht­lerin Alma Wartenberg, dass allein die Frau das Recht habe, über ihren Körper zu bestimmen: Wenn der Staat eine Fülle an Gesetzen »gegen den Rückgang der Geburten« erlasse, so müsse die Frau »doch Herrin über ihren ei­genen Körper« bleiben. Das Recht, Schwangerschaften und Geburten zu verhindern, stehe ihr »selbst gegen den Willen ihres Ehemannes« zu. Heinrich Freiherr von Steinaecker, Abgeordneter der Zentrumspartei im Preußischen Landtag, beschimpfte die Feministin daraufhin als »wildes Tier, das auf die menschliche Gesellschaft losgelassen wird«. Auch die Justiz schlug zu: Wartenberg wurde 1913 wegen des Verstoßes gegen den Unzuchtparagraphen zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Sie hatte einen Vortrag über Verhütungsmethoden gehalten.