Im Tal der Tauben: Das Kulturfestival Cappadox in der Türkei

In Anatolien sprechen die Steine

Inmitten der bizarren Landschaft im türkischen Kappadokien findet ein Kulturfestival statt, das sich gegen staatliche Repression wendet.

Das Tal der Tauben beeindruckt durch seine üppige Vegetation und besonderen Felsformationen. In der Schlucht kreisen Vögel um löchrige Felsen. »Das sind die Taubenschläge, die angelegt wurden, um Vogelkot als Düngemittel zu gewinnen«, erklärt die Kuratorin des Festivals Cappadox, Fulya Erdemci.

Über die Wiese kriecht eine große Schildkröte. Kappadokien ist ein märchenhaftes Gebiet in Zentralanatolien. Der Ort Ortahisar, der dem Festival Cappadox als Kulisse dient, liegt im Zentrum einer Region, deren bizarre Landschaft durch eine ehemals starke vulkanischer Tätigkeit geprägt ist, erzählt die Kuratorin.

Erdemci kuratiert das jährlich stattfindende Festival bereits zum vierten Mal und ist inzwischen Expertin in Sachen Geschichte, Archäologie und Landschaft Kappadokiens geworden. »Wir versuchen, die unterschiedlichsten Aspekte in das Festival zu integrieren. Archäologen bieten Wanderungen für Besucher an. In Workshops wird gekocht, gemalt und musiziert, und es geht multikulturell zu.«

Mükremin Tokmak, der zum ­Kuratorenteam des Festivals gehört, blickt versonnen auf eine alte Schwarzweißfotografie. Sie zeigt ihn im Jahr 1974 als 17jährigen mit einem Freund vor dem Trakt der politischen Gefangenen.

Kappadokien lag einst an der Seidenstraße und wurde in der Geschichte wiederholt zum Ziel von Plünderungen. In weichem Tuffstein entstanden unterirdische Städte mit eigener Architektur, die der Bevölkerung nicht nur vor Angriffen und Überfällen, sondern auch vor Hitze und Kälte Schutz boten. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Landschaft ist ein besonderes Anliegen des Festivals, das sich mit dem Thema Stille beschäftigt. »Ich beziehe mich auf John Cage, der immer betont hat, dass es keine komplette Stille gibt«, sagt Erdemci. »Das ist auch ein Verweis auf die politische Stimmung in der Türkei. Das Festival sucht in der Peripherie Zuflucht vor den Repressalien gegen die Kultur- und Kunstszene und Inspiration, um der bleiernen Lethargie zu entkommen, die die Folge der Politik ist.«

Dann geht ein Flüstern durch das Tal, eine Tonprobe für eine Klangcollage. »Das Wasser findet seinen Spalt, sagte er. Kannst du wie das Wasser sein, das seinen Spalt findet?« Der Text ertönt erst auf Türkisch, dann auf Englisch. Die türkische Künstlerin Hale Tenger ist aber noch nicht ganz zufrieden und weist ihr Aufbauteam an, einen Lautsprecher noch ein wenig zu verrücken. Hinter einem mächtigen Maulbeerbaum versteckt sich einer der Lautsprecher. Als die zum Festival eingeladenen Künstler im Februar an Ort und Stelle ihre Arbeiten entwickelten, trug der Baum noch kein Laub und der Ton war perfekt. Es wirkte, als spreche die Stimme aus dem Gestein. Jetzt dämpft dichtes Blätterkleid die Übertragung. Der Text ist eine lyrische Fusion unterschiedlicher Zitate. In einem anatolischen Sprichwort heißt es: »Jedes Wasser findet seinen Spalt.« Damit ist gemeint, dass jedes Lebe­wesen eine Bestimmung hat, der es folgt. Tengers Arbeit wurde durch einen Text des 2007 in Istanbul ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink inspiriert, in der er das Schicksal einer vor dem Genozid an den Armeniern geflohenen Frau schildert, die in ihren Geburtsort zurückkehrt, um dort zu sterben.

Fulya Erdemci läuft gebückt durch eine Höhle am Rand des Tals der Tauben. Sie sucht nach einer geeigneten Stelle für die Soundinstallation der in Berlin lebenden schottischen Künstlerin Susan Philipsz. Sie vertonte den Refrain von Syd Barretts Lied »Long Gone«. »Ich bin seit langem verschwunden, die Leute kommen und gehen. Sie haben Waffen in der Hand. Niemand versteht, dass ich schon lange gegangen bin«, hallt es durch die Höhle.

 

Kappadokien umfasst verschiedene zentralanatolische Städte, die in der jüngsten Vergangenheit Ziel der Bauwut der türkischen Regierung wurden. Die Stadt Nevşehir besteht fast nur noch aus den hässlichen Hochhäusern der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft Toki. Am Stadtrand erinnern Ruinen an die Altstadt, deren Zentrum immer multikulturell geprägt war. Ein paar Moscheen und die ehemalige griechisch-orthodoxe Kirche stehen noch. Nach Pogromen in den fünfziger Jahren haben fast alle Griechen die Stadt verlassen, danach wurde das große Gotteshaus bis 1983 als Gefängnis genutzt.

»Alles hat Spalten und Risse. Kannst du wie das Licht sein, das durch die Risse dringt?« flüstert es aus dem Felsen. Diese Verse der Klangcollage beziehen sich auf Leonhard Cohens Lied »Anthem«

Mükremin Tokmak, der zum ­Kuratorenteam des Festivals gehört, blickt versonnen auf eine alte Schwarzweißfotografie. Sie zeigt ihn im Jahr 1974 als 17jährigen mit einem Freund vor dem Trakt der politischen Gefangenen. »Ich war damals Teil der sozialistischen Bewegung, die sich für eine Entwicklung Anatoliens einsetzte«, erzählt er. Vier Jahre Haft brachte ihm das ein. Heutzutage ist Tokmak Mitglied der Demokratiepartei des Volkes (HDP), deren frühere Parteiführung fast vollzählig im Gefängnis sitzt. »Wie uns damals beschuldigt man sie, Mitglieder terroristischer Ver­einigungen zu sein, dabei ging es damals wie heute um gewaltfreie Oppositionspolitik.« Mükremin hat das Festival mit seinem umfassenden Wissen über die Region stark beeinflusst. Er wohnt in einem großen Höhlenhaus, das früher Teil einer unterirdischen Stadt war. Eigenhändig hat er Teile der verschütteten Gänge hinter dem Wohnraum freigelegt. »Die wurden nach der Republikgründung von den Kemalisten zugeschüttet, weil sich die Region so besser kontrollieren ließ«, erläutert Tokmak.

Als Anhänger der ultranationalistischen Partei der Nationalen Be­wegung (MHP) und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) 2015 vor seiner Tür demonstrierten und »Vaterlandsver­räter« brüllten, brachte der HDP-Politiker seinen kleinen Sohn durch ­einen unterirdischen Gang ins Nachbarhaus, weil er fürchtete, dass die Meute sein Haus anzünden könnte. Die Wut über den Erfolg der HDP bei den Parlamentswahlen, der die absolute Mehrheit der AKP beendet hatte, sei maßlos gewesen. Für die Präsidentschaftswahl sieht er schwarz: »Eine Koalition der rechten Islamisten und Faschisten tritt gegen eine andere republikanisch ultra­rechte Koalition aus Kemalisten, ­oppositionellen Ultranationalisten und Islamisten an. Daraus kann kein liberaler Präsident hervorgehen.« Dass Erdoğan verlieren könnte, sei aber immerhin vorstellbar.

Im Tal der Tauben zeigt sich Hale Tenger zufrieden mit dem Sound ­ihrer Installation. Die Tontechniker haben eine Lösung gefunden, um das Echo nachzubilden. »Alles hat Spalten und Risse. Kannst du wie das Licht sein, das durch die Risse dringt?« flüstert es aus dem Felsen. Diese Verse der Klangcollage beziehen sich auf Leonhard Cohens Lied »Anthem« und den berühmten Vers, »There is a crack in everything, that’s how the light gets in.« Aus dem Gestein im Tal der Tauben wispert es: »Kannst du wie das Licht sein, dass durch die Spalten dringt?«

Das bis zum 7. Juli stattfindende Festival jedenfalls ist ein Lichtblick in politisch düsteren Zeiten in der Türkei.