Eine Retrospektive der Filme der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel

Das Umlenken der Blicke

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Martels Debütfilm »Morast« (2001) gilt als Auftakt des Neuen Argentinischen Kinos. Auf der Erzähloberfläche geht es um zwei Mittelschichtsfami­lien, die ihre Ferien in der schwülen Sommerhitze eines Landguts verbringen. Schon in den ersten Szenen, in denen Martel eine komplexe Struktur aus Bildausschnitten, Geräuschen und Texturen etabliert, zeigt sich ihre große Meisterschaft in der Komposition verstörend sinnlicher Erfahrungen. Die Exposition des konventionellen Erzählkinos, die eine erste Übersicht gibt, wird hier durch Fragmentierung und Verdichtung ersetzt, die ein gegenteiliges Ziel verfolgen. »Morast« beginnt mit einer dichten Choreographie aus Close-ups und Klängen: Grillengezirpe, Vogelgeschrei, gefüllte Rotweingläser, nahende Donnergeräusche, klirrende Eiswürfel, über den Steinboden ­geschleifte Liegestühle, gealterte Körperteile in Badekleidung, gerötete Dekolletées. Martels Erzählung bewegt sich in einem fiebrigen Dämmerzustand, der von Blessuren, Alkoholnebel, von Trägheit, Verwesung und unterschwelligem Begehren bestimmt ist. Das moorgrüne Poolwasser fault vor sich hin, doch der eigentliche Morast ist die Familie selbst, ihre Abhängigkeiten und Grenzüberschreitungen, die sich auch in der flapsigen Verächtlichkeit gegen das allgegenwärtige Personal zeigen.

Schauplatz ist Salta, die Hauptstadt der gleichnamigen, im Valle de ­Lerma gelegenen Provinz im Nordwesten von Argentinien, und Martels Heimatort. In einem heruntergekommenen Thermalhotel in Salta, das von der Teenagerin Amalia und ihrer geschiedenen Mutter bewohnt wird und zeitweilig einen Ärzte­kongress beherbergt, spielt auch der Film »Das heilige Mädchen«. Wie in »Morast« gibt es hier ein diffuses Gemisch von Verlangen und Bedrohung, spirituellen Erweckungsgefühlen und Sexualität. Die räumliche Orientierung löst sich in ungewöhnlichen Kadrierungen und Nahaufnahmen auf, wobei Martel die weiblichen Perspektiven einnimmt, nicht zuletzt, indem sie herrschende Blickordnungen sprengt und die Blickrichtung umlenkt. Man sieht so etwas selten: Ein heranwachsendes Mädchen taxiert im Schwimmbad mit ihrem Blick so lange einen älteren Mann, bis dieser verschämt den Kopf abwenden muss.

In »La mujer sin cabeza« (2007) gerät eine Frau aus der oberen Mittelschicht nach einer Unfallflucht in eine Krise – sie weiß nicht, ob sie einen Hund oder einen Indio-Jungen überfahren hat. Ihre wachsenden Schuldgefühle aber werden von ihren nächsten Angehörigen – dem Ehemann, dem Liebhaber, dem Bruder – heruntergespielt und verleugnet. Auch hier formuliert sich Martels postkoloniale Kritik nicht in konturierter Aufklärungsrhetorik. Sie sickert vielmehr in sämtliche Schichten der Mise en Scène: in Blicke, Gesten und Figurenanordnungen. Dabei zeigt sich das Machtgefälle gerade auch in den Momenten scheinbarer Nivellierung. Ohne die zahlreichen Bediensteten, die für die immer abwesendere Véronica das Räderwerk am Laufen halten, wäre sie schon längst aus dem Rahmen ihres bourgeoisen Lebens gefallen.

In »Zama« löst sich dieser Rahmen bis zum totalen Zerfall auf. Eine kommentierende Rolle spielt dabei der Sound. Die nach entspannter Hawaimusik klingenden Gitarrenmelodien von Los Indios Tabajares scheinen Zamas gescheitertes Fortkommen ironisch zu begleiten. ­Zudem bringt Martel neben Tierlauten und Objektgeräuschen – das Quietschen eines Deckenventilators, der von einem Diener bewegt wird, ist der vielleicht markanteste Ton – dieses Mal auch industrielle Sounds zum Einsatz, der ganz sicher nicht aus dieser kolonialen Welt stammt. Wie brüchig das zivilisatorische Konstrukt ohnehin ist, zeigt sich auch in einer schönen Szene, in der Zama im Gouverneurszimmer zum wiederholten Mal seine Versetzung anspricht. Da spaziert im Hintergrund ein Lama herum.

 

Filmfest München, 28. Juni bis 7. Juli
Werkschau Lucrecia Martel, 4. bis 12. Juli, Kino Arsenal, Berlin