Eine Retrospektive der Filme der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel

Das Umlenken der Blicke

Lucrecia Martel gilt als Protagonistin des Neuen Lateinamerikanischen Kinos. Auf dem Filmfest München und im Kino Arsenal in Berlin gibt es eine Retrospektive

Don Diego de Zama, ein Beamter der spanischen Krone, ist ein vergeblich Wartender. Ende des 18.Jahrhunderts sitzt er in Paraguay auf ­einem einsamen Außenposten fest und sehnt seine Versetzung ins ­argentinische Lerma herbei. Das Verstreichen der Zeit zeigt Lucrecia ­Martels Film anhand der wechselnden Gouverneure, die das Gesuch des Beamten an den König jeweils mit kafkaesker Indifferenz behandeln. Als er irgendwann einmal gefragt wird, wie lange er schon an ­diesem Ort sei, antwortet er nur: »Schon lange.« Zama ist ein ganz durchschnittlicher Mann, kein ­Besessener oder sich zum Gott erhebender Irrer – und damit ist er ein Antagonist zu den gefährlich schillernden Figuren, die das Kino so liebt, sobald es sich der Kolonial­geschichte zuwendet. Martels Vorliebe, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie im Bild zu verunklaren, findet mit der in lähmender ­Stasis abgestellten Figur eine Entsprechung. Basierend auf dem 1956 ­erschienenen Roman von Antonio di Benedetto blickt ihr 2017 entstandener Film auf die wenig beleuchteten Ränder der Historie, dorthin, wo scheinbar »nichts« passiert.

Mit einer für das Kino Martels ungewöhnlich klaren Einstellung ­beginnt der Historienfilm »Zama«: Eine Totale zeigt die Hauptfigur am Strand, aufs Meer blickend, im Bildhintergrund sieht man ein paar ­Kinder beim Spielen. Mit dem Dreispitz, der fuchsiafarbigen Jacke und dem sinnlos herumbaumelnden Degen wirkt Zama irgendwie fehl am Platz. Die Übersichtlichkeit des ­Bildes wird dann auch schnell gestört. Auf der Suche nach der Quelle eines rätselhaften Frauengelächters, das aus dem Off zu hören ist, stapft der Beamte schon bald unbeholfen durch steiniges Gelände. Und wird kurz ­darauf von einer Gruppe Frauen, die sich am Wasser mit Schlamm einreiben, als »Gaffer« beschimpft und verjagt. Die Trennung von Bild und Geräusch, das Verschieben der Aufmerksamkeit auf Nebenschauplätze wie auch die Infragestellung existierender Machtverhältnisse ist ­typisch für das Kino Martels. Als in »Das heilige Mädchen« (2004) die 15jährige Amalia in einer Menschenmenge von einem Arzt angegrabscht wird, grabscht sie zurück. Mit einer simplen Umkehrung herrschender Machtverhältnisse hat ihre sexuelle Offensive allerdings wenig zu tun. Das Mädchen verfolgt eine Art religiöse Mission, bei der das eigene sexuelle Erwachen eine durchaus ambivalente Rolle spielt. Und auch bei den indigenen Figuren in Martels Werk lassen sich nur ­bedingt Gesten der Selbstermächtigung ausmachen. Tatsächlich gibt es nur wenige Filmschaffende, die den Rassismus der weißen Vorherrschaft mit einer so präzisen Beiläufigkeit einfangen, gleichzeitig hat die Präsenz der natives in ihren Arbeiten nie etwas Inst­rumentelles. Sie sind keine Objekte kolonialer oder postkolonialer Ordnungen, sondern autonome Figuren mit einem eigenen filmischen Raum, selbst wenn sie diesen meist als Hausangestellte mit der bürgerlichen Mittelschicht zu teilen haben.

Mit nur vier Filmen, die im Zeitraum von 16 Jahren entstanden sind, hat Lucrecia Martel ihre unverwechselbare kinematographische Handschrift entwickelt.

Mit nur vier Filmen, die im Zeitraum von 16 Jahren entstanden sind, hat Martel ihre unverwechselbare ­kinematographische Handschrift entwickelt. Ihre Genauigkeit im Aus­formulieren von gesellschaftlichen und familiären Zerfallserscheinungen ist umso bemerkenswerter, als ihre Werkzeuge nicht analytische Klarheit und Distanz sind, sondern sensuelle Wahrnehmung, radikale Subjektivität und hypnotische Atmosphäre.

Das 36. Filmfest München widmet der 1966 geborenen Filmemacherin nun eine Werkschau, bei der neben ihren Kurzfilmen auch das Biopic »Años Luz« (2018) von Manuel Abramovich gezeigt wird – eine Dokumentation, die die Filmemacherin bei ihrer Arbeit an »Zama« begleitet. Im Anschluss an das Festival werden ihre Arbeiten im Berliner Kino Arsenal gezeigt, später auch in Frankfurt und Nürnberg.

 

Martels Debütfilm »Morast« (2001) gilt als Auftakt des Neuen Argentinischen Kinos. Auf der Erzähloberfläche geht es um zwei Mittelschichtsfami­lien, die ihre Ferien in der schwülen Sommerhitze eines Landguts verbringen. Schon in den ersten Szenen, in denen Martel eine komplexe Struktur aus Bildausschnitten, Geräuschen und Texturen etabliert, zeigt sich ihre große Meisterschaft in der Komposition verstörend sinnlicher Erfahrungen. Die Exposition des konventionellen Erzählkinos, die eine erste Übersicht gibt, wird hier durch Fragmentierung und Verdichtung ersetzt, die ein gegenteiliges Ziel verfolgen. »Morast« beginnt mit einer dichten Choreographie aus Close-ups und Klängen: Grillengezirpe, Vogelgeschrei, gefüllte Rotweingläser, nahende Donnergeräusche, klirrende Eiswürfel, über den Steinboden ­geschleifte Liegestühle, gealterte Körperteile in Badekleidung, gerötete Dekolletées. Martels Erzählung bewegt sich in einem fiebrigen Dämmerzustand, der von Blessuren, Alkoholnebel, von Trägheit, Verwesung und unterschwelligem Begehren bestimmt ist. Das moorgrüne Poolwasser fault vor sich hin, doch der eigentliche Morast ist die Familie selbst, ihre Abhängigkeiten und Grenzüberschreitungen, die sich auch in der flapsigen Verächtlichkeit gegen das allgegenwärtige Personal zeigen.

Schauplatz ist Salta, die Hauptstadt der gleichnamigen, im Valle de ­Lerma gelegenen Provinz im Nordwesten von Argentinien, und Martels Heimatort. In einem heruntergekommenen Thermalhotel in Salta, das von der Teenagerin Amalia und ihrer geschiedenen Mutter bewohnt wird und zeitweilig einen Ärzte­kongress beherbergt, spielt auch der Film »Das heilige Mädchen«. Wie in »Morast« gibt es hier ein diffuses Gemisch von Verlangen und Bedrohung, spirituellen Erweckungsgefühlen und Sexualität. Die räumliche Orientierung löst sich in ungewöhnlichen Kadrierungen und Nahaufnahmen auf, wobei Martel die weiblichen Perspektiven einnimmt, nicht zuletzt, indem sie herrschende Blickordnungen sprengt und die Blickrichtung umlenkt. Man sieht so etwas selten: Ein heranwachsendes Mädchen taxiert im Schwimmbad mit ihrem Blick so lange einen älteren Mann, bis dieser verschämt den Kopf abwenden muss.

In »La mujer sin cabeza« (2007) gerät eine Frau aus der oberen Mittelschicht nach einer Unfallflucht in eine Krise – sie weiß nicht, ob sie einen Hund oder einen Indio-Jungen überfahren hat. Ihre wachsenden Schuldgefühle aber werden von ihren nächsten Angehörigen – dem Ehemann, dem Liebhaber, dem Bruder – heruntergespielt und verleugnet. Auch hier formuliert sich Martels postkoloniale Kritik nicht in konturierter Aufklärungsrhetorik. Sie sickert vielmehr in sämtliche Schichten der Mise en Scène: in Blicke, Gesten und Figurenanordnungen. Dabei zeigt sich das Machtgefälle gerade auch in den Momenten scheinbarer Nivellierung. Ohne die zahlreichen Bediensteten, die für die immer abwesendere Véronica das Räderwerk am Laufen halten, wäre sie schon längst aus dem Rahmen ihres bourgeoisen Lebens gefallen.

In »Zama« löst sich dieser Rahmen bis zum totalen Zerfall auf. Eine kommentierende Rolle spielt dabei der Sound. Die nach entspannter Hawaimusik klingenden Gitarrenmelodien von Los Indios Tabajares scheinen Zamas gescheitertes Fortkommen ironisch zu begleiten. ­Zudem bringt Martel neben Tierlauten und Objektgeräuschen – das Quietschen eines Deckenventilators, der von einem Diener bewegt wird, ist der vielleicht markanteste Ton – dieses Mal auch industrielle Sounds zum Einsatz, der ganz sicher nicht aus dieser kolonialen Welt stammt. Wie brüchig das zivilisatorische Konstrukt ohnehin ist, zeigt sich auch in einer schönen Szene, in der Zama im Gouverneurszimmer zum wiederholten Mal seine Versetzung anspricht. Da spaziert im Hintergrund ein Lama herum.

 

Filmfest München, 28. Juni bis 7. Juli
Werkschau Lucrecia Martel, 4. bis 12. Juli, Kino Arsenal, Berlin