Ein Gespräch mit Philipp Lenhard, Herausgeber der Schriften Friedrich Pollocks

»Er hat gesagt, wohin die Reise geht«

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Interview Von

Dennoch gibt es eine Linie, die zu dem führt, was als »Neue Marx-Lektüre« bekannt geworden ist.
Ja, auf jeden Fall. Wenn man seine Dissertationsschrift »Zur Geldtheorie von Karl Marx« oder auch den Aufsatz »Zur Marxschen Geldtheorie«, ebenfalls abgedruckt im ersten Band, liest, wird Themen entdecken, mit denen sich die Neue Marx-Lektüre noch heute auseinandersetzt. ­Inwiefern Pollocks Antworten noch für aktuell gehalten werden, darüber kann man sicherlich diskutieren, ich glaube aber schon, dass er für die damalige Zeit eine sehr saubere Rekonstruktion der Marx’schen Geldtheorie gemacht hat, und tatsächlich auch schon, was wirklich neu war, den Blick auf Ideologie und Fetischismuskritik gelenkt hat, teilweise auch auf Staatskritik. Es sind ein­zelne Formulierungen, die sich aber durchaus bereits zu einem Gesamtbild fügen. Er hat Geldkritik schon als Formkritik verstanden.

Kurz vor seinem Tod hat er an ­einem Buch zum Marx’schen Arbeitsbegriff gearbeitet. Da ging es insbesondere um die Frage der wertbildenden Arbeit, das Verhältnis von produktiver Arbeit und Dienstleistung, also Fragen, die uns heute auch noch beschäftigen. Pollock ist aber nicht über Ansätze hinausgekommen, das Buch erschien nie.

Welche Lücken kann das Editionsprojekt schließen? Was fehlt ohne Pollock?
Bevor ich mich mit ihm beschäftigt habe, war er mir auch nicht besonders bekannt. Man kannte natürlich die Diskussionen über den Charakter des Nationalsozialismus in der Institutszeitschrift, in der er mit den beiden Aufsätzen »State Capitalism« und »Is National Socialism a New Order?« vertreten war, aber sonst hat er keine Rolle gespielt in der Rezeption der kritischen Theorie, und damit auch nicht in den aktuellen Debatten.

Jetzt hingegen bin ich der Ansicht, dass man die bekannteren Denker der kritischen Theorie besser versteht, wenn man Pollock kennt. Seine Aufgabe war immer zu sagen, »wohin die Reise geht«, wie Horkheimer das ­formulierte, also die ökonomische Entwicklung auf den Punkt zu bringen und damit auch die Grundlage zu bilden, auf der die anderen philosophischen, kulturwissenschaftlichen oder ideologiekritischen Studien entstehen konnten.

Mich überrascht immer wieder, wie aktuell er eigentlich ist. Ich habe bereits die Automationsstudie genannt. Wenn man heute die Zeitung aufschlägt, ist ständig von Auto­matisierung die Rede, und die Dinge, die da geschildert werden, »techno­logische Arbeitslosigkeit« und dergleichen, das hatte Pollock alles schon beschrieben. Er hat sich außerdem soziologisch mit dem Altern ­beschäftigt, welche Rolle eigentlich die Alten in der Gesellschaft haben, auch ein Aufsatz, der unglaublich aktuell ist. Auch die Überlegungen zum »Staatskapitalismus«, also die Frage, was nach dem Zusammenbruch des liberalen Kapitalismus passiert, ist nach wie vor aktuell und wurde von Pollock gestellt.

Ich glaube, wir haben immer noch keine gute Antwort darauf, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben und inwiefern die Marx’sche Theorie das noch wiedergeben kann, die ja in einer ganz anderen Zeit ­geschrieben wurde. Wir leben zwar immer noch im Kapitalismus, aber in was für einer Art Kapitalismus genau? Welche Rolle spielt der Staat als Wirtschaftsakteur eigentlich? Was ist mit dem Wertgesetz und all diesen Dingen, gelten die noch? Da war Pollock eben sehr kritisch, und ich meine, zu Recht. Und ich glaube, dass seine Fragen immer noch wichtig sind, auch wenn ich nicht sagen würde, dass alle seine Antworten stimmen. Es ist schon merkwürdig, dass die Linke diese Tendenz hat, so unhistorisch mit Schriften umzugehen, die vor dem Holocaust, ja vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, das gilt zum Beispiel auch für die Anarchisten.

Der Imperativ »always historicize« des Marxisten Fredric Jameson gilt also auch für die Beschäftigung mit Marx selbst.
Das, würde ich sagen, ist auch ein Problem der Neuen Marx-Lektüre, weswegen ich finde, dass Pollock recht gehabt hat, diesen Weg nicht weiter zu verfolgen, auch wenn es eine wichtige Stufe in seiner Entwicklung war, sich vom traditionellen Marxismus zu lösen, aber er davon ausgehend auch weitergegangen ist, weil es mit einer reinen Rekonstruktion nicht getan ist. Ich glaube nicht, dass diese Abkehr einer rein opportunistischen Haltung geschuldet war, was ja auch Horkheimer immer wieder unterstellt wird. Sicherlich spielte die Angst, als Remigranten des Kommunismus bezichtigt zu werden, auch eine Rolle, aber es hat eben auch inhaltliche Gründe, dass man mit den Marx’schen Kategorien kritisch umgeht. Sieht man dann gleichzeitig in seine privaten Aufzeichnungen, stellt man aber fest, dass er sich zeitlebens intensiv weiter mit Marx beschäftigt hat.

 

Friedrich Pollock: Marxistische Schriften. Gesammelte Schriften, Band 1. Herausgegeben von Philipp Lenhard. Ça-ira-Verlag, Freiburg 2018, 362 Seiten, 28 Euro