Niklas Maak, Architekturtheoretiker, über neue Ansprüche an die Wohnarchitektur

»Hierzulande wird Privatheit vor allem negativ gedacht«

Niklas Maak ist Architekturkritiker, Universitätsdozent und seit 2001 Feuilletonredakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, wo er zusammen mit Julia Voss das Kunstressort leitet. Im Hanser-Verlag veröffentlichte er die Bücher »Der Architekt am Strand« (2010), »Fahrtenbuch. Roman eines Autos« (2011) sowie »Wohnkomplex. Warum wir neue Häuser brauchen« (2014).
Interview Von

In der »Jungle World« wurde vor einiger Zeit das Fehlen ­einer linken Architekturkritik bemängelt. Teilen Sie diesen Befund?
In der Tat gab es in linken Milieus jahrzehntelang keine große Begeisterung für architektonische Fragen. Nach den großen Reformarchitekturprojekten der zwanziger Jahre – Bauhaus, Rotes Wien – wurde Architektur kaum noch als emanzipatorisches Instrument zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen aufgefasst. Es dominierte eine modernismus-, technokratie- und obrigkeitskritische Haltung, die Architektur vor allem als Herrschafts­instrument wahrnahm. Etwa bei den Hausbesetzern oder frühen feministischen Gruppen, für die sich Architektur dadurch auszeichnete, dass sie abzulehnende Vorstellungen von Gesellschaft zementierte. Daneben hat die Öko­logiebewegung ja auch schon sehr früh und völlig zu Recht den großen Energieverbrauch bei Neubauten kritisiert und sich entsprechend eher auf die Umnutzung, Erweiterung und Transformation bestehender Strukturen ­fokussiert – jedoch kaum auf bauästhetische Fragen.
Innerhalb der Linken gab es aber auch eine architekturkritische Tradition, die vor allem die ökonomischen Grundlagen von Architektur in den Blick nimmt. Einer ihrer führenden Vordenker ist Hans-Jochen Vogel, dessen ­Gedanken derzeit ein Revival erleben. Ähnlich argumentiert auch die kana­dische Architektin Phyllis Lambert: Der Boden – und damit die Grundlage für das Bauen – sollte allen Menschen gehören – ähnlich wie die Luft oder das Wasser.

Welche Rolle spielt in den linken Debatten die Kritik an rechter Bauästhetik?
Stephan Trüby aus Stuttgart hat diese Debatte kürzlich wieder aufgegriffen, indem er darauf hinwies, dass die ­rekonstruierte Frankfurter Altstadt auf Ideen eines rechtsradikalen, ­antisemitischen Essayisten zurückgehe. Trüby nennt die Altstadt entsprechend einen »rechten Raum« und versucht in Abgrenzung dazu auch »linke Räume« zu definieren. Er macht deutlich, dass es in Deutschland aktuell ein nationalistisches, xenophobes, völkisches Denken gibt, das anstrebt, in bestimmten Räumen zum Ausdruck zu kommen – teils ja auch mit Erfolg.

Trübys Argumentation greift meines Erachtens aber zu kurz, denn bei den aktuellen Projekten der Rekonstruktion – Berliner Schloss, Frankfurter Altstadt, Potsdamer Garnisonskirche oder der Abriss der DDR-Fachbibliothek – fällt auf, dass diese als »rechts« benannten Projekte maßgeblich von SPD-­Politikern initiiert, betrieben und zum Erfolg geführt wurden. Das Rechts-links-Schema hilft bei der Kritik der diversen Rekonstruktionsprojekte also empirisch nur bedingt weiter, denn hier ist vor allem die nationale Identitätspolitik zentral. Trotzdem halte ich es für sehr wichtig, für eine emanzipa­torische Bauästhetik einzutreten, die der Diversität von Lebensmodellen Rechnung trägt und mit sich verändernden Lebensbedingungen kreativ umgeht. Das betrifft zum Beispiel die Inklusion von Geflüchteten oder neue Formen von Partnerschaft und kollektiver Kindererziehung.

In Ihrem Buch »Wohnkomplex. Warum wir neue Häuser brauchen« kritisieren Sie die deutsche Wohnarchitektur als unzeitgemäß. Inwiefern?
Interessanterweise wird im Bauen genau die Vielfalt der Lebensformen marginalisiert, die wir als besondere Qualität urbaner Räume und als Ausweis einer liberalen, offenen Gesellschaft feiern. Für die große Masse, die nicht zu einer wohlhabenden Elite Experimentierfreudiger gehört, die sich beispielsweise eine Villa für ihr Wohnprojekt leisten kann, werden seit langem die immer gleichen Kisten hingestellt, die sich an einem Idealbild aus den fünfziger Jahren orientieren: dem der jungen Kern­familie, in der der Vater oder auch beide Eltern ganztägig arbeiten und Haus oder Wohnung nur am Wochenende zu mehr als zum Schlafen nutzen.

Eine Lebensform, die vielen Menschen als überholt gilt.
Allerdings. Aufgrund von demographischen, sozialen und technologischen Entwicklungen ist sie in den städtischen Ballungsräumen inzwischen sogar in der Minderheit. Bautypologien, die dem Wunsch nach neuen Formen von ­Zusammenleben, gegenseitiger Hilfe bei Kindererziehung – Stichwort Co-­Parenting – und Alters-WGs Rechnung tragen, werden weder im großen Stil entworfen noch von der Baupolitik gefördert. Gute Architektur sollte aber, wie gute Politik, immer Ermöglichung und Ermutigung sein, neue, angemessenere Lebensformen auszuprobieren. Das Lebensmuster »erst Ausbildungssingle, dann Kleinfamilie, dann Singlerentner« wird durch die Häuser, die wir bauen, als Normalfall eines Lebenswegs gesetzt.

Aus welchen Gründen?
Das liegt zum einen an den wirtschaftlichen Interessen der Bauindustrie. Ein Massivhausanbieter macht beispielsweise das Geschäft seines Lebens, wenn er eine Typologie entwirft, die er mit geringfügigen dekorativen Abwandlungen und mit der schon vorhandenen Genehmigung für diesen Typenbau tausendfach verkaufen kann. Das ist ein enormes Geschäftsmodell, weshalb die Bauindustrielobby hierauf pocht. An diesen Modellen profitieren alle am Bau Beteiligten – nur die­jenigen nicht, die darin leben müssen.

Welche weiteren Gründe gibt es für die Beharrungskraft der Kernfamilie?
Von Kindesalter werden wir bombardiert mit Büchern oder Legobaukästen, die das Lebensmodell der Kernfamilie idealisieren und anthropologisieren – als wäre es Teil der menschlichen ­Natur, dass Papa auf Arbeit ist und Mama im Einfamilienhaus den Haushalt macht. Doch die Kernfamilie ist als architektonische Ordnungseinheit kulturgeschichtlich betrachtet relativ jung: Jahrhundertelang lebte man im »ganzen Haus« mit vielen Menschen zusammen, ob das nun ein Bauernhof war oder ein Handwerkerhaus; die Kleinfamilie wurde erst ab dem 18. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung als ideale Zelle definiert, um den Arbeiter arbeitsfähig zu halten, auch ­indem sich die Frau um ihn und die restliche Familie kümmern sollte. Für ­viele Menschen ist es schwer, sich von dieser allgegenwärtigen Ideologie freizumachen.

 

In »Wohnkomplex« kritisieren Sie, dass die deutsche Wohnarchitektur das veränderte Verhältnis von ­»öffentlich« und »privat« nur unzureichend reflektiere. Inwiefern?
Hierzulande herrscht eine sehr schematische und unzeitgemäße Vorstellung davon, was es bedeutet, privat, und was, öffentlich zu sein. Wenn wir zum Beispiel auf dem Bett liegend E-Mails schreiben, chatten und online einkaufen, dann machen wir Dinge, die ­früher auf dem Marktplatz stattgefunden haben, also in der Öffentlichkeit. Daneben lassen sich viele Menschen elektronisch tracken, um etwa über die Analyse der Herzfrequenz etwas über die Qualität ihres Schlafs zu erfahren. Dadurch werden sie noch im Schlaf – einer früher höchst privaten Angelegenheit – zu Produzenten verkaufbarer Daten.
Wer nach einer solchen Nacht ohne das Handy das Haus verlässt, um in Ruhe einen Spaziergang zu machen – geht der dann wirklich von einem pri­vaten in den öffentlichen Raum? Diese Entwicklung eröffnet bestimmte Möglichkeiten, gleichzeitig stellt sich die Frage, wie der private Raum geschützt werden kann vor der kompletten Auswertung, Ausspähung und Kommerzialisierung. Architektur muss diese Fragen reflektieren.

Wo sehen Sie das bisher realisiert?
Spannend finde ich viele Projekte aus ­Japan, wo es traditionell ein flexibleres und graduelles Verständnis von privat und öffentlich gibt. Hierzulande wird Privatheit vor allem negativ gedacht: als jemandem »etwas wegnehmen«, so wie es das lateinische Ursprungsverb privare meint. Dieses Private wird dann kriegerisch verteidigt, mit dicken ­Mauern – oder auch mit Waffen. Interessant ist, dass es eine Obsession in Bezug auf den Schutz des Privaten gibt. Aber was ist mit dem Schutz des Öffentlichen, des Gemeinsamen?

In Japan, aber auch in anderen nichtwestlichen Ländern ist das Kriegerische des »Privatum«, des »Wegnehmens« von einem imaginären Kollektiv, das im westlichen Denken als unvermeidbare Voraussetzung aller Individuation oder Selbstwerdung betrachtet wird, viel ­weniger wichtig für eine Idee des Daseins. Großzügigkeit, Hospitalität und Generosität spielen eine viel größere Rolle und sind elementar, um Teil der Welt zu werden. Das zeigt sich auch in der japanischen Gegenwartsarchitektur, wo die große Mehrheit der Baumaterialien nicht für Mauern, sondern ­horizontal zum Schutz vor Sonne und Witterung eingesetzt wird. In Mega­städten wie Tokio ist es aufgrund des Platzmangels zudem schlicht notwendig, intelligente Lösungen zu entwickeln und bestehende Ideen und Konzepte in Frage zu stellen.

Welche Typologien und Entwürfe haben Sie hier vor Augen?
Sou Fujimoto hatte den Auftrag, auf nur 60 Quadratmetern ein Haus für eine Familie inklusive eines Autostellplatzes zu errichten. Auf drei Etagen war das nicht machbar – bis er den Begriff der Etage hinterfragte. Er fing an, ein zehn Meter hohes Haus mit über 20 Ebenen zu konstruieren, die komplex vernetzt sind mit kleinen Treppen. Er hat eine zauberhafte Wohneinheit für eine ­Familie geschaffen, verwinkelt, mit vielen Rückzugsmöglichkeiten, aber auch gemeinschaftlich nutzbaren Räumen. Fujimotos »NA« ist ein gutes Beispiel dafür, wie japanische Architekten bestehende Kategorien produktiv und ­innovativ in Frage stellen. Das Haus besteht eigentlich nur aus verglasten Fensterrahmen, für Intimität sorgen Vorhänge. Es gibt geborgene Nischen und offene Ebenen, auf denen man so exponiert wie auf einem Felsvorsprung über dem Meer sitzt.

Oder das berühmte Moriyama House von Ryue Nishizawa. Diese Zusammenstellung von Mikrohäusern ­eröffnet einen Zwischenraum aus schmalen, aber zur Straße hin geöffneten Gassen und Plätzen, wo die Bewohner sich treffen können.

Dadurch wird eine Form von Kommunikation gefördert, die mehr ist als die kommerziell überformte Öffentlichkeit, die wir heute kennen.

Oder die Yokohama Apartments von On Design. Das Gebäude hat im Erd­geschoss eine Art Wohnzimmer, das durch eine riesige Gardine zur Stadt hin geöffnet werden kann – eine intelligente Form, um das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit flexibel und graduell zu definieren, und auch, um den Austausch und die Begegnung mit der Nachbarschaft neuartig zu ­aktivieren. Bei solchen Begegnungen ist es auch wichtig, Konflikte und ­Diversität produktiv auszuhalten.

Da ist in der heutigen Architektur kein weit verbreiteter Gedanke, oder?
Allerdings. Es dominiert ein am worst case orientiertes Denken. Das hat vielleicht zu tun mit einem Wandel von einer Gesellschaft, die optimistisch war und Begegnungen auch mit Fremden eher als Bereicherung wahrgenommen hat und deren höchste, auch von der Stadt zu ermöglichende Werte Freiheit und Selbstbestimmung waren, hin zu einer Stadt, die ausschließlich Komfort und Sicherheit verspricht. Bei aller oberflächlichen Verschönerung und Ökologisierung entspricht die heutige Stadt der Entwicklung des Autos vom Cabriolet hin zum SUV: von einer nahezu frivolen Art, offen zu sein und sich den Naturgewalten auszusetzen, hin zu einer ängstlich-bedächtigen Art, den öffentlichen Raum zu betreten, im Gefühl beständiger Bedrohung.

Das sind Vorstellungen, die auch die Debatte über Geflüchtete dominieren.
Die Medien zeigen entweder bedroh­liche, anonyme Massen, die auf Deutschland zumarschieren, oder – als Illustration gelungener Integration – deutsche Handwerker, die Geflüchteten etwas beibringen, als hätten diese keine Ahnung. Das ist paternalistisch, denn oft könnten etwa deutsche Köche oder Programmierer viel von ihren syrischen Kollegen lernen. Architektur kann ein starkes, optimistisches Bild von einer gelungenen, die ortsansässige Bevölkerung bereichernden Kooperation schaffen. Die Massenunterkünfte für Geflüchtete mit einem großen Zaun drumherum tun das nicht.