Die rechtsextremen Strukturen im sächsischen Heidenau

Späte Aufklärung

Fast drei Jahre nach den rassistischen Krawallen in Heidenau lassen sich die rechtsextremen Strukturen dahinter deutlich erkennen. Doch die Strafprozesse kommen nur langsam voran.

Im August jähren sich die rassistischen Ausschreitungen von Heidenau zum dritten Mal. Für Kerstin Köditz, die für die Linkspartei im Sächsischen Landtag sitzt, stellen sie den »furchtbaren Höhepunkt der rassistischen Mobilisierung« im Jahr 2015 dar. Rund ein Dutzend der damaligen Täter wurden inzwischen verurteilt. Darunter sind unter anderem Mitglieder der rechtsterroristischen Gruppe Freital.

Im Rahmen der laufenden Gerichtsprozesse lassen sich die Ereignisse inzwischen gut rekonstruieren. »Die derzeitigen Erkenntnisse zeigen, dass man von einem koordinierten Vorgehen unterschiedlicher neonazistischer Strukturen ausgehen kann. Die Täter handelten anscheinend nach einem verabredeten Plan«, sagte der Rechtsanwalt Mark Feilitzsch der Jungle World. Er ist Nebenklagevertreter im Prozess gegen die Freie Kameradschaft Dresden (FKD). Bei deren Mitgliedern gab es zuletzt Ende Juni erneute Hausdurchsuchungen. Seit November 2016 wird gegen sie wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Insgesamt 17 Personen der Gruppe werden 14 gemeinsam begangene Taten vorgeworfen, darunter schwerer Landesfriedensbruch, gemeinschaftliche Körperverletzung und das Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen. Drei FKD-Mitglieder sind inzwischen zu Haftstrafen bis zu drei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Sechs weiteren Neonazis wird seit September 2017 der Prozess gemacht. Die Beweisaufnahme wird voraussichtlich erst Ende des Jahres abgeschlossen. Einen wich­tigen Tatkomplex stellen auch in ihrem Fall die Ereignisse von Heidenau dar.

Kerstin Köditz ist pessimistisch, was die Aufklärung in Sachsen betrifft: »Es gibt viel, was sich zu ermitteln lohnen würde – vor allem die überregionale Vernetzung der gewaltbereiten rechten Szene, die in den vergangenen Jahren immer wieder aktiviert werden konnte. Zerschlagen ist sie noch lange nicht.«

Am 19. August 2015 wurde offiziell bekannt, dass in einem ehemaligen Baumarkt in Heidenau, nahe Dresden, eine vorübergehende Notunterkunft für bis zu 600 Geflüchtete eingerichtet werden soll. Der damalige NPD-Stadtrat Rico R. hatte daraufhin als Privatperson zu Kundgebungen aufgerufen. Zwei Tage später, am Freitag, nahmen rund 1 000 Personen, darunter zahlreiche Neonazis, an einem Aufmarsch der NPD teil. Bereits während der Demonstration war die Stimmung auf­geheizt. Die Auswertung der polizeilichen Videoaufnahmen kann mittlerweile belegen, dass Ordner vom Lautsprecherwagen der NPD-Demons­tration Handzettel verteilten, auf denen zur Blockade der Asylunterkunft auf­gerufen wurde. Tatsächlich sammelten sich nach dem Aufmarsch rund 600 Menschen auf der Straße zur Unterkunft. Unter den Blockierenden ­befanden sich neben Heidenauer Bürgerinnen und Bürgern auch die damals führenden Köpfe der regionalen Neonazi-Szene. Der Anführer der rechtsterroristischen Gruppe Freital, Timo Schulz, konnte auf den Videos vor Gericht identifiziert werden. Als die Polizei die Blockade gegen 22 Uhr auflösen wollte, wurde sie mit Flaschen, Pyrotechnik und Böllern beworfen. Erst gegen zwei Uhr nachts beruhigte sich die Lage, so dass die ersten Asylsuchenden unter Polizeischutz die Unterkunft beziehen konnten.

Direkt nach den Ausschreitungen der Nacht mobilisierte die regionale Neonazi-Szene über halb­öffentliche Verteiler, Chat-Gruppen und Facebook-Posts nach Heidenau. Ab dem Nachmittag des 22. August 2015 trafen Gruppen von Neonazis in der Stadt ein. Gleichzeitig fand eine antifaschistische Kundgebung mit 200 Teilnehmern vor der Asyl­unterkunft statt. Obwohl es bereits am Vorabend schwere Ausschreitungen ­gegeben hatte, waren am Samstag nur 170 Polizeibeamte in Heidenau im ­Einsatz. Schätzungen zufolge waren bei Einbruch der Dunkelheit rund 300 organisierte Neonazis und Hooligans in der Stadt.

Im Rahmen der Gerichtsprozesse der vergangenen Monate wurde deutlich, dass unter den Neonazis mindestens fünf organisierte Gruppen agierten, die miteinander kooperierten. Neben der FKD und der Gruppe Freital traten auch Neonazis aus dem Umfeld des »Hauses Montag« und rechte Hooligans um den Dresdner Neonazi und Security-Unternehmer René H. in Erscheinung, die auch unter der Bezeichnung »Reisegruppe 44« bekannt sind. Die Personen um das rechte »Haus Montag« in Pirna gelten als Nachfolgestruktur der verbotenen Skinheads Sächsische Schweiz (SSS). In Vernehmungen sagte Timo Schulz, die Gewalt in Heidenau sei von den SSS ausgegangen. Die Ermittlungsergebnisse zur FKD fördern nun zutage, dass damit offenbar jene Strukturen um das »Haus Montag« in Pirna gemeint waren.

Als fünfte organisierte Gruppe waren örtliche Neonazis aus dem Umfeld von Rico R. aus Heidenau an den Übergriffen beteiligt. Ab 22.45 Uhr kam es zu koordinierten, heftigen Angriffen auf die Polizei. Dabei griffen die Gruppen von verschiedenen Seiten an und versuchten, in Richtung der Antifa-Kundgebung und der Asylunterkunft vor­zudringen. Die Neonazis setzten Böller, Pyrotechnik, Flaschen und Baustellenmaterial ein.

Wie Anfang Juni bei einer Verhandlung im Landgericht Dresden bekannt wurde, kommunizierte der Dresdner Neonazi Nick F. kurz vor den Angriffen per Whatsapp-Chat mit seiner Mutter. Wenige Minuten vor den Ausschreitungen beendete er das Gespräch mit der Nachricht: »So gut jetzt. Ist gleich Startschuss.« Vor Gericht schilderte ein ­leitender Polizeibeamte, dass die Lage zeitweise vollständig außer Kontrolle zu geraten drohte. Nur der Einsatz von Tränengas mit Mehrzweckpistolen habe das verhindert. Ein anderer Polizist sagte in der vorigen Woche aus, dass wegen der personellen Unterbesetzung im Einsatz und der unübersichtlichen Lage vor Ort an Strafverfolgung bei den Krawallen anfangs nicht zu denken gewesen sei.

Kerstin Köditz ist enttäuscht, dass es »drei Jahre später mit der juristischen Ahndung noch kaum vorangegangen ist. Es gibt nur Aufklärung mit halber Kraft im Kleckertempo.« Sie befürchtet, dass viele Täter straflos davonkommen werden. Einzelne Beamte des damaligen Operativen Abwehrzentrums (OAZ) der Polizei können nach den stundenlangen Videoauswertungen allerdings als Experten der Ereignisse gelten. Vor Gericht war Kriminaloberkommissar Michael B. in der Lage, einzelne Täter anhand von Silhouetten in den Videoaufnahmen zu identifizieren und ihnen bestimmte Taten zuzuordnen. Die Beweisaufnahme im FKD-Prozess ist aufwendig und kleinteilig. Der Angeklagte Franz R. soll im Video beim Steinewerfen zu sehen sein.

Vor Gericht behauptete er, nur zufällig vor Ort gewesen zu sein. Er habe sich der Ausschreitung entziehen wollen und dabei die Orientierung verloren. Gegen ­einen der Zeugen, den Neonazi Patrick L., wegen Landfriedensbruchs in Heidenau nach einem Geständnis inhaftiert, verhängte das Gericht 500 Euro Ordnungsgeld und Beugehaft, da er vor Gericht behauptete, sich nicht mehr an die Geschehnisse zu erinnern. Fragen der Nebenklage, die mögliche Fehler der ­Polizei beleuchten will, werden vom Gericht abgewehrt. Sollten frühere Urteile gegen FKD-Mitglieder und die Gruppe Freital rechtskräftig werden, kommen auch die Verurteilten dieser Prozesse als Zeugen zu Heidenau in Betracht.

Kerstin Köditz ist pessimistisch, was die Aufklärung in Sachsen betrifft: »Es gibt viel, was sich zu ermitteln lohnen würde – vor allem die überregionale Vernetzung der gewaltbereiten rechten Szene, die in den vergangenen Jahren immer wieder aktiviert werden konnte. Zerschlagen ist sie noch lange nicht.«