Hunderttausende sind im syrischen Dara’a auf der Flucht

Krieg in der Deeskalationszone

Das Assad-Regime setzt zur Eroberung der letzten von Rebellen­truppen gehaltenen Gebiete in Syrien an. Mit der Islamischen Republik Iran verbündete Milizen kämpfen nahe des Golans.

Im Mai 2017 lud Russlands Präsident Wladimir Putin zusammen mit den Regierungen des Irans und der Türkei Vertreter der syrischen Regierung und mehrerer Rebellengruppen ins kasachische Astana. Es sollte um die Einrichtung von vier sogenannten Deeskalationszonen in den – abgesehen von der kurdischen Autonomieregion – letzten größeren von Aufständischen kontrollierten Gebieten Syriens gehen. In Idlib, Nord-Homs, Ost-Ghouta und Dara’a lebten zu diesem Zeitpunkt mehr als vier Millionen Menschen. Der Plan: Frieden zwischen Regimetruppen und Rebellen, ein Ende russischer Luftangriffe, unumschränkter Zugang für Hilfsorganisationen in die zum Teil seit Jahren belagerten Territorien. Doch der Traum von Frieden, den manche in diesen Gebieten sich dadurch erhofften, ist zerstört. Ost-Ghouta und Dara’a erfuhren seit Jahresbeginn die brutalsten Militäreinsätze seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs. In den zurück­eroberten Gebieten deutet sich bereits an, wie das Assad-Regime mit Geflüchteten und Oppositionellen umzugehen gedenkt.

Ost-Ghouta im Brennglas
Ost-Ghouta, ein Vorortgürtel östlich von Damaskus, gehörte zu den ersten Gebieten, die sich 2011 der Revolution anschlossen. Dort lebten überwiegend sunnitische Angehörige der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht. Seit Beginn der nuller Jahre von der neoliberalen Wirtschaftspolitik Bashar al-Assads und von der Repression entrechtet, gingen die Menschen auf die Straße, mit dem Gefühl, viel gewinnen und wenig verlieren zu können. Doch die Situation verschlechterte sich. Die Belastung der seit 2013 anhaltenden Belagerung Ost-Ghutas durch Truppen des Assad-Regimes verstärkte sich durch die Repression seitens islamistischer Gruppierungen. Vollständig ­eskalierte die Lage in Ghouta durch die konzentrierte Militäroffensive seit Jahresbeginn. Nach unablässigen russischen Luftangriffen und systematischem Aushungern fiel die Enklave.

Nun fahndet der syrische Geheimdienst akribisch nach Tausenden Personen, denen eine Verbindung zur ­Revolution angelastet wird. Werden die mutmaßlichen Oppositionellen gefasst, müssen sie sich oft wochen-, manchmal monatelangen Verhören unterziehen, die häufig mit Folter verbunden sind. Das Regime führt paranoid Buch, um auch Angehörige Oppositioneller und kommende Generationen zu brandmarken. Das ist – neben dem dreijährigen Militärdienst, der allen nach Syrien zurückkehrenden Männern bis zum Alter von 42 Jahren droht – ein Grund dafür, warum viele der aus Ghouta Vertriebenen nicht zurückkehren können.

Derweil geriert sich Russland mit hauptsächlich tschetschenischen Bodentruppen vor Ort in seiner Propaganda als neutraler Friedensbringer. Dabei wäre Ghouta ohne Putins Militärkampagne nicht gefallen.

 

Dara’a und die Untätigkeit der USA
Etwa 120 Kilometer südlich von Ost-Ghouta liegt Dara’a. Hier, in einem ebenfalls ländlich und sunnitisch geprägten Gebiet, hatte die Revolution 2011 begonnen. Seitdem ist das Gebiet erbittert umkämpft. Für die etwa 750 000 in Dara’a lebenden Menschen spitzte sich mit dem Beginn der Mili­täroffensive vor gut zwei Wochen die Lage zu. Während die russische Luftwaffe Luftangriffe flog und Regierungstruppen auf dem Boden vorrückten, fanden hinter geschlossenen Türen Verhandlungen zwischen Russland und der Opposition statt. Teile und herrsche – das Leid der Zivilbevölkerung dient Syrien immer wieder als Druckmittel. Am Wochenende einigten sich die bewaffneten oppositionellen Gruppierungen Dara’as und russische Unterhändler auf ein Waffenstillstandsabkommen. Wer nicht kooperieren will, soll nach Idlib umgesiedelt werden. Hunderte kamen seit Beginn der Offensive ums Leben, nach Angaben der UN sind derzeit 320 000 Menschen auf der Flucht. Zehntausende stehen vor den geschlossenen Grenzen Jordaniens und Israels. Eine Rückkehr in ihre vormaligen Wohnorte ist für viele von ihnen ebenso wenig möglich wie für die Geflüchteten aus Ost-Ghouta.

Bei der Einrichtung der Deeskalationszone in Dara’a standen 2017 auch die USA Pate. Rebellengruppen wie die von Dara’a sollen zuvor durch ein 2013 begonnenes und im Juni 2017 beendetes Geheimprogramm der CIA Unterstützung erhalten haben. Dies berichtete die New York Times am 19. Juli 2017 unter Berufung auf anonyme US-Regierungsbeamte. Das Programm war schon kurz nach seinem Beginn bekannt geworden, aber wurde weder von der Regierung Präsident Obamas, noch von der seines Nachfolgers offiziell bestätigt. Den Rebellen in Dara’a ließ US-Präsident Donald Trump gleich zu Beginn des russischen Bombardements per WhatsApp mitteilen, sie könnten nicht mit einem US-amerikanischen Ein­greifen rechnen.

Die Frankfurter Rundschau schrieb am 6. Juni, die US-Regierung wolle vor allem sicherstellen, dass die russische und die syrische Regierung den Einfluss der ira­nischen Regierung beschneiden und die Iraner zum Abzug ihrer auf 80 000 Mann geschätzten schiitischen Milizionäre drängen. Den Rückzug der vom Iran kontrollierten Milizen bezeichnete jedoch, wie die Times of ­Israel am 4. Juli berichtete, Russlands Außenminister Sergej Lawrow jüngst als »absolut unrealistisch«.

In Südsyrien tummeln sich allerhand aus dem Iran befehligte schiitische Milizen. Im Zuge der gegenwär­tigen Eskalation stellen sie eine Bedrohung nicht nur für die syrische Zivilbevölkerung, sondern auch für das angrenzende Israel dar. Syrische Staatsmedien berichteten am Sonntag über einen neuerlichen israelischen Angriff auf einen Luftwaffenstützpunkt in der Provinz Homs. Der Angriff richtete sich gegen iranische Einheiten sowie die ­libanesische Hizbollah-Miliz. Auf Seiten Assads sollen 5 000 Hizbollah-Kämpfer in der Region stehen. Diese sind nach Angaben der israelischen Tageszeitung Haarez auch an den Kämpfen an der Grenze zu Jordanien und auf den Golan-Höhen beteiligt.

Idlib und das Problem der Türkei
Die sogenannten Deeskalationszonen dienten dem Assad-Regime von Anfang an vor allem dazu, sich Zeit zu verschaffen, um nacheinander die von Rebellen kontrollierten Gebiete zurückzuerobern. Setzt das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, seinen Rückeroberungsfeldzug fort, wäre nach Dara’a Idlib an der Reihe.

In dem nordsyrischen Territorium leben nach jüngsten Schätzungen 3,3 Millionen Menschen, ein Drittel davon wurden aus anderen zuvor oppo­sitionell gehaltenen Landesteilen vertrieben. Die humanitäre Situation ist bereits jetzt katastrophal: Im September 2017 hat die aus verschiedenen ­islamistischen Gruppen hervorgegangene Organisation Tahrir al-Sham mit der selbsternannten »Heilsregierung« die Macht ergriffen. Als Reaktion darauf haben sich US-amerikanische und britische Geldgeber weitestgehend aus der Region zurückgezogen. Daraufhin brach der Bildungssektor in Idlib zusammen, Gelder für zivilgesellschaftliche Initia­tiven wurden gestrichen.

Im Falle eines Angriffs des Assad-Regimes und seiner Verbündeter droht die Flucht Hunderttausender in Richtung türkischer Grenze. Bereits jetzt leben in der Türkei etwa 3,5 Millionen Syrerinnen und Syrer. Die Türkei, die seit der Invasion Afrins größere Gebiete nahe der Grenze zu Idlib kontrolliert, dürfte wenig Interesse an einer Invasion Idlibs haben. Möglich ist, dass sich die türkische Regierung mit einem russisch-türkischen Kuhhandel zufriedengibt: Garantiert Russland mittels seines Einflusses auf das Assad-­Regime den türkischen Zugriff auf kurdische Gebiete, könnte die Türkei einer Invasion Idlibs untätig zusehen.

Terror und Enteignung
Das Assad-Regime versucht auch, sich in den rückeroberten, ehemals oppositionellen Gebieten wirtschaftlich zu bereichern. So verabschiedete die syrische Regierung im April ein Gesetz, nach dem Hauseigentümer 30 Tage Zeit haben, um die Rechtmäßigkeit ihres Eigentums zu beweisen. Misslingt das, etwa weil ganze Familien aus ihrer Wohnorten vertrieben sind oder Eigentumsnachweise in den Wirren des Bürgerkriegs verloren gingen, geht ihr Grund und Boden in Staatseigentum über. Zwar wurde die Frist nach internationalem Druck auf ein Jahr verlängert, doch auch diese Zeit dürfte vielen Familien nicht ausreichen.

Mit den Enteignungen werden die oppositionellen Bevölkerungsgruppen in Ghouta, Dara’a und anderswo bestraft, die von der Politik Assads schon seit langem systematisch benachteiligt werden. Auf der Gewinnerseite stehen die dem Regime weiterhin treu verbundene Mittel- und Oberschicht in Damaskus und die zahlreichen Geschäftsmänner, die sich seit 2011 an Kriegswirtschaft, Schmuggel und Korruption bereichern und auch vom ­anstehenden Wiederaufbau profitieren werden, der auf europäischer Ebene bereits diskutiert wird.

Während Assad Geflüchtete zur Rückkehr auffordert und europäische Regierungen mit Rückführungsabkommen liebäugeln, konkretisiert sich die syrische Politikin Form von Ent­eignungen, Verfolgung und Willkür. In Raqqa, der ehemaligen Hochburg des »Islamischen Staates« (IS), verhängten die Behörden in der vergangenen Woche kurzfristig wieder eine Ausgangssperre. Grund dafür waren Hinweise auf bevorstehende IS-Angriffe.

Assad setzt sein Terrorregime indes ungebrochen fort, wobei ihm eine ­russisch-iranische Allianz den Rücken freihält.