Nachruf auf Claude Lanzmann

Nicht müde bis zuletzt

Zum Tod von Claude Lanzmann.

»Ich bin von der Welt weder übersättigt noch ermattet, und hundert Leben, das weiß ich nur zu gut, würden mich nicht müde machen«, schreibt Claude Lanzmann in seinen 2009 unter dem Titel »Der patago­nische Hase« veröffentlichten Lebenserinnerungen. Von Überdruss war dem damals bereits über 80jährigen in der Tat nichts anzumerken, dessen letztes Lebensjahrzent von großer Produktivität geprägt war; von Reisen, Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen sowie von Filmen und Büchern, die sich einerseits mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzten, Themen wiederaufgriffen und zu Ende führten und sich andererseits mit neuen Fragen beschäftigten. Aus dem unveröffentlichten Material zu seinem bedeutendsten Film »Shoah« entstanden die Filmarbeiten »Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr« (2001), »Der Karski-Bericht« (2010), »Der Letzte der Ungerechten« (2013) und »Vier Schwestern« (2017). Ebenfalls 2017 feierte sein Filmessay »Napalm« auf den Filmfestspielen in Cannes Premiere, in dem Lanzmann persönliche Erinnerungen an Nordkorea schildert. In den späten Fünfzigern war er Mitglied der ersten westlichen Delegation gewesen, die das Land nach dem Korea-Krieg besuchte.

Lanzmann schuf ein vielschichtiges Werk, das sich vor dem Hintergrund der Shoah mit den zentralen Fragen jüdischer Identität auseinandersetzt. 1925 in Paris geboren, war der Enkel jüdischer Immigranten aus Osteuropa schon als Kind mit Antisemitismus konfrontiert. Dass er zunächst sein Judentum verbarg, um sich vor Übergriffen zu schützen, sollte ihn noch viele Jahre später beschäftigen. Während ein jüdischer Mitschüler regelmäßig verprügelt wurde, leugnete Lanzmann seinen jüdischen Hintergrund und wurde verschont; »nie wieder feige sein«, schwor er sich später. Seine »Feigheit« legte er im Sommer 1943 ab, als er Mitglied der kommunistischen Jugendbewegung wurde und die Résistance-Gruppe seines Gymnasiums anführte. »Ich habe den Vorkriegsantise­mitismus erlebt, einen gewalttätigen Antisemitismus. Und dann der Krieg, die Résistance. Ich habe gegen die Deutschen gekämpft und wirklich welche getötet«, erinnerte er sich 2007 in einem Interview an diese Jahre.

»Israel ist nicht die Erlösung vom Holocaust. Diese sechs Millionen sind nicht gestorben, damit Israel existieren kann. Das letzte Bild in ›Shoah‹ ist ein anderes. Es zeigt einen fahrenden Zug. Es will sagen, dass der Holocaust kein Ende hat.« Claude Lanzmann

Nach dem Krieg studierte er Philosophie im französisch kontrollierten Tübingen, lehrte kurzzeitig an der Freien Universität in West-Berlin und kehrte Anfang der Fünfziger nach Paris zurück, wo er enger Freund und Mitarbeiter von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir wurde. Er arbeitete als Journalist, wurde Redakteur des von Sartre begründeten Magazins Les Temps Modernes, engagierte sich gegen den Algerien-Krieg und die Kolonialpolitik der Franzosen. Bei einer Demonstration ­erfuhr er jäh die Wucht des fortdauernden Antisemitismus, als er am Rande der Kundgebung von der Pariser Polizei drangsaliert wurde. »Ohrfeigen, Fausthiebe, Beleidigungen, die sich ins Antisemitische wendeten, nachdem man meine Papiere geprüft hatte; man spuckte mir ins Gesicht«, notierte er. Noch stärker schmerzte ihn jedoch der als Antizionismus getarnte Antisemitismus seiner linken Kampfgenossen nach dem Sechstagekrieg, was auch zu ­einem zeitweiligen Zerwürfnis mit Sartre führte. In einem Interview ­erzählte Lanzmann: »Dann war da der Sechstagekrieg, den die Israelis gewannen und nach dem ein Großteil der antikolonialistischen Linken, ein Großteil meiner Kampfgenossen, anfing, auf Israel herum­zuhacken mit dieser hundsgemeinen Pauschalisierung: Das sind Sieger, das sind Nazis, mit der daraus folgenden neuen Opferrolle der Araber. Es war unglaublich.«

Seine Antwort bestand in dem 1973 fertiggestellten Film »Warum Israel«, einer Reflexion über die Frage, ob es so etwas wie Normalität in dem jüdischen Staat geben könne. Wäre nicht die Normalität angesichts der jüngsten jüdischen Geschichte das eigentlich Abnormale? Zahlreiche Personen kommen im Film zu Wort, die ein vielschichtiges Bild des Landes zeichnen. Lanzmann definierte sein Jüdischsein zunächst über die Erfahrung des Antisemitismus – die jüdische Religion hatte in seinem Elternhaus keine Rolle gespielt. Erst die Auseinandersetzung mit dem Staat Israel, dessen Gründung »in gewisser Weise gänzlich an mir vorbeigegangen ist«, wie er schreibt, ermöglichte ihm einen neuen Zugang zu seiner Biographie, der ihn zurückführte in seine eigene Familiengeschichte und die vernichtete osteu­ropäische Lebenswelt der Großeltern.