Missbrauchsvorwürfe gegen die Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell

Die Gender-Gang beschützt eine Schwester

Die Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell steht im Verdacht, sich gegenüber einem Studenten übergriffig verhalten zu haben. Die linksakademische Prominenz, allen voran Judith Butler, springen ohne genaue Kenntnis des Falls für Ronell in die Bresche.

Im Herbst 2017 wurde die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell, eine profilierte Vertreterin der Dekonstruktion in der Tradition Jacques Derridas, von einem oder einer Studierenden der New York University (NYU), wo Ronell eine Professur innehat, eines sexuellen Übergriffs beschuldigt. Die Universität hat ein sogenanntes Title-IX-Verfahren gegen sie eingeleitet, was genau passiert war, ist nicht bekannt.

In beinahe zynisch erscheinender Konsequenz ruft ein gesellschaftlicher Bereich nach dem anderen: Hier auch! Was im Filmgeschäft begonnen hat, findet seine Fortsetzung unter ­anderem in der Musikindustrie, der Politik und eben auch in der Wissenschaft. Opfer sexueller Übergriffe brechen ihr Schweigen und weisen mit Nachdruck auf die Alltäglichkeit des männlichen Anspruchs hin, sich weibliche Körper untertan zu machen.

Diese habituelle Übergriffigkeit gehört abgeschafft. Doch der Fall Ronell zeigt, dass es nötig ist, die Bewegung, die derzeit diese Abschaffung fordert, selbst einer Kritik zu unterziehen. Denn die antisexistische Bewegung arbeitet seit Jahren auf den Zerfall des Gesellschaftlichen in Cliquen und Gangs hin, die ihre Angelegenheiten selbst regeln. Und Avital Ronell gehört eben der Gang linker wissenschaftlicher Intellektueller an, die sich als Avantgarde in einem Kampf sehen, dessen Inhalt schon lange niemand mehr explizieren kann oder will.

Wird das Mitglied einer Gang angegriffen, ist per Definition die Gang als Ganzes angegriffen worden. Auf diesem Niveau agieren jene Wissenschaftler, die im Mai dieses Jahres einen – später geleakten – Brief an die Universitätsleitung der NYU ­geschrieben haben, in dem sie Ronell verteidigen. Unter den Unterzeichnern findet sich alles, was Rang und Namen hat – von Judith Butler, der die Initiative für den Brief zugeschrieben wird, über Slavoj Žižek und Jean-Luc Nancy bis zu Gayatri Chakravorty Spivak. Aus Deutschland beteiligten sich unter anderem Anselm Haverkamp und Barbara Vinken. In abstruser Weise betonen die Intellektuellen Ronells wissenschaftliche Leistungen, die aber mit dem Vorwurf eines sexuellen Übergriffs gar nichts zu tun haben, schließlich kann sich auch eine großartige Wissenschaftlerin falsch verhalten. Der Brief kommt zu dem Schluss: »If she were to be terminated or relieved of her duties, the injustice would be widely recognized and ­opposed.«

So grotesk der Vorgang anmuten mag – das Ganze ist nicht zum Lachen. Vielmehr dokumentieren die 51 Professorinnen und Professoren, dass sie gerne bereit sind, mit dem Denken aufzuhören, wenn eine Schwester angegriffen wird. Kein Wort von der Person, die den Vorwurf gegen Ronell erhoben hat.

Der jahrzehntelange Kampf linker Poststrukturalisten gegen alles, was mit Struktur, Vermittlung und Universalität zu tun hat, trägt Früchte. Bei dem voreiligen Beharren auf der Unschuld Ronells gibt es, das wird hier augenfällig, keinen Platz mehr für das vermeintliche Opfer. Mit dem Eintreten für die angegriffene Kollegin, ohne jede Kenntnis der Vorgänge, erklärt ein signifikanter Teil linker Akademiker ihren politischen Bankrott.

Eine Bewegung ist nötig, die Verhältnisse abschafft, unter denen Frauen sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind – und die dabei dafür sorgt, dass ausnahmslos jedes Opfer von Übergriffen gehört wird. Butler und Co. sind nicht ihre Vordenkerinnen.