US-Präsident Donald Trump hat die Krise der Nato nur offensichtlich gemacht

Prozente statt Politik

Mit seinem Amtskollegen Wladimir Putin versteht sich Donald Trump besser als mit vielen seiner westlichen Verbündeten. Doch die Provokationen des US-Präsidenten haben die Krise der Nato nicht verursacht, sondern nur offensichtlich gemacht.

So unerfreulich es ist, das einräumen zu müssen: Nicht immer liegt Donald Trump völlig daneben. So ist Deutschland zwar kein »Gefangener« Russlands, wie der US-Präsident während des ­Nato-Gipfels vorige Woche behauptete, doch Kritik am Pipeline-Projekt »Nord Stream 2« ist berechtigt. Es festigt eine strategische deutsch-russische Partnerschaft im Energiesektor, die sich auf die finanzielle Verflechtung von Konzernen beider Länder stützt und über die mit Gerhard Schröder ein ehemaliger Bundeskanzler präsidiert. Ist die Pipeline fertiggestellt, benötigt man die Ukraine als Transitland für den Erdgasimport nicht mehr, das Land wird in der Konfrontation mit Russland geschwächt. Überdies geht – was Trump, der für den Kauf von US-amerikanischem Flüssiggas werben will, weniger interessieren dürfte – mit dem Pipeline-Bau eine langfristige Festlegung auf diesen fossilen Brennstoff einher, die klimapolitisch desas­trös ist.

Doch der US-Präsident ist wegen seiner eigenen dubiosen Russland-Geschäfte ein höchst zweifelhafter Kritiker, zudem hält der größte Teil der Welt mittlerweile instinktiv das Gegenteil von dem für richtig, was er sagt. Allerdings widerspricht Trump häufig sich selbst, man weiß nie so genau, worauf der US-Präsident wirklich hinaus will. Die Trumpologie kann angesichts der Unberechenbarkeit ihres Objekts keine exakte Wissenschaft sein. Eine Konstante aber ist erkennbar: Die Renationalisierung der Politik, der Handelskrieg und der Neomerkantilismus stehen im Zentrum von Trumps Politik, auch wenn es offiziell um etwas ganz anderes geht oder gehen soll. Deshalb attackiert er nicht nur in der Zoll-, sondern auch in der Nato-Politik so gern das exportstarke Deutschland – und es geht immer um Geld, nicht um Sicherheitsfragen.

Dass Ungarn sich für zehn Milliarden Euro vom russischen Staatskonzern Rosatom zwei Atomkraftwerke errichten lässt, die zu 80 Prozent mit russischen Krediten finanziert werden und während der Betriebszeit russischer Wartung und Zulieferung bedürfen, schafft ebenfalls eine Abhängigkeit. Das Geschäft betrifft zwar allein Ungarn – sofern es nicht zur Kernschmelze kommt –, ist aber ein weiterer bedeutender Schritt der Annäherung Ministerpräsident Viktor Orbáns an Präsident Wladimir Putin. Wenigstens einen Tweet hätte Trump auch die ­Absicht des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wert sein können, das russische Luftabwehrsystem S-400 zu kaufen.

Zudem platzte Trump mit seiner Forderung nach höheren Militärausgaben in eine Nato-Sitzung hinein, die eigentlich den Verhandlungen über den Beitritt der Ukraine und Georgiens gewidmet war. Die Repräsentanten beider Staaten mussten den Raum verlassen – eine deutliche politische Botschaft, selbst wenn der US-Präsident sich nur einmal mehr schlecht benommen haben sollte und nicht seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin eine kleine Gefälligkeit erweisen wollte.
Die Nato-Staaten, so fordert Trump, sollen ihre Militärausgaben umgehend auf zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts – einem seiner Tweets nach dem Gipfel zufolge sogar auf vier Prozent – erhöhen. Vereinbart wurde die Zwei-Prozent-Richtlinie bereits 2002, als Russland noch als Partner galt. Sie war zunächst ein unverbind­licher Richtwert, 2014 beschloss die Nato, dass die Mitgliedsstaaten »darauf abzielen, sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent zuzubewegen«.

Das Bekenntnis zu höheren Militärausgaben hilft der Nato, eine Debatte über politische Grundlagen und Ziele des Bündnisses zu vermeiden.

Wofür die Nato das viele Geld braucht, wird erstaunlich selten diskutiert. Die Vermutung liegt nahe, dass Trump sich Einkäufe bei US-Rüstungsfirmen erhofft. Doch nicht einmal das ist sicher, seine ultimative Forderung könnte auch ein Mittel sein, in den USA Stimmung gegen die Nato zu machen – kündigen kann Trump die Mitgliedschaft ohne Zustimmung des Kongresses nicht. So gut wie sicher ist jedenfalls, dass nicht alle Staaten in dem von Trump vorgegebenen Zeitrahmen bis Anfang 2019 seiner Forderung nachkommen werden.

Zur Zeit des Kalten Kriegs rechnete man der westlichen Öffentlichkeit ak­ribisch vor, wofür neue Waffensysteme und höhere Militärausgaben angeblich benötigt wurden. Darüber konnte man streiten und tat es auch ausgiebig. Bereits die militärpolitisch unsinnige Bindung der Rüstungsausgaben an das Bruttoinlandsprodukt – tatsächlich sind eher in Zeiten der Wirtschaftskrise internationale Spannungen zu erwarten – zeigt jedoch, dass die Vereinbarung vor allem ein Mittel ist, die Nato als joint venture dadurch zusammenzuhalten, dass alle mehr in sie investieren. Das Bekenntnis zu höheren Militärausgaben hilft, eine Debatte über politische Grundlagen und Ziele des Bündnisses zu vermeiden.

 

Als antisowjetische Allianz hatte die Nato eine klare Zielsetzung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion diente sie gelegentlich der Koordinierung multinationaler Militäreinsätze. Der bedeutendste, die Intervention in Afghanistan, wird in rituellen Fortschrittsmeldungen als Erfolg bezeichnet, obwohl nach fast 17 Jahren Krieg die Taliban in 70 Prozent des Landes aktiv sind. Intern sieht man die Dinge möglicherweise realistischer, jedenfalls hält sich der Enthusiasmus in Grenzen, wenn es um die Beteiligung an ähnlichen Einsätzen geht. Sie werden von wechselnden multinationalen Koalitionen mit Drohnen und kleinen Truppenkontingenten geführt.

Bleibt Russland, das über eine recht imposante konventionelle Streitmacht verfügt und das Baltikum mit einem Überraschungsangriff überrennen könnte. An der Überlegenheit der Nato kann jedoch kein Zweifel bestehen, es gibt auch militärisch keinen Grund, in allen Bereichen, also etwa bei der Zahl der schnell in Osteuropa einsetzbaren Panzer, gleichzuziehen. An Waffen fehlt es der Nato nicht, die noch immer etwa zwei Drittel der globalen Militärmacht vereinigt. Weniger klar ist, ob die politische Einigkeit so groß ist, dass im Fall eines – derzeit sehr unwahrscheinlichen – russischen Angriffs auf das Baltikum tatsächlich der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrags eintreten würde.

Auch viele Linksliberale hoffen derzeit, die Nato könne helfen, die »westliche« Demokratie zu schützen und zu stabilisieren. Dazu müssten jedoch Grundlagen geschaffen werden, die weit über das vage Bekenntnis zur Demokratie im Nato-Vertrag hinausgehen, die Mitgliedschaft an überprüfbare Kriterien binden und politische Ziele festschreiben – das Militärbündnis müsste dann wohl auf einige Staaten verzichten. Über rechtsautoritäre Regimes wie das der Türkei aber wird nicht einmal debattiert. Trumps Provokationen haben die Probleme der Nato nicht geschaffen, sondern nur offensichtlich gemacht. Sein Aufstieg zum US-Prä­sidenten ist allerdings das herausragende Beispiel für die tatsächliche Gefahr, die von Russland ausgeht, und Trump dessen Partner bei der Unterstützung der populistischen und extremen Rechten in Europa. So bezeichnete er kurz vor Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, der rechtsextreme Parteien in Europa unterstützt, die EU als »Gegner«.

Seine Kritik am Nord-Stream-2-Projekt hat Trump beim Gipfeltreffen am Montag in Helsinki zurückgenommen. Russland sei nur ein »Konkurrent« im Energiegeschäft, er sei sich nicht sicher, ob das Projekt »im besten Interesse Deutschlands ist oder nicht«. Konkrete Ergebnisse des Treffens wurden nicht bekanntgegeben. Die meisten US-Medien achteten vor allem darauf, ob und wie Trump zum Vorwurf Stellung nehmen würde, Russland habe den Präsidentschaftswahlkampf 2016 zu seinen Gunsten manipuliert. Am Freitag voriger Woche hatte Sonderermittler Robert Mueller zwölf russische Geheimdienstler wegen des Hacker­angriffs auf das Hauptquartier der Demokraten angeklagt und deren Vor­gehensweise ausführlich dargelegt. Trump aber berief sich erneut darauf, Putin habe ihm versichert, mit der ­Sache nichts zu tun zu haben.

Nach derzeitigem Kenntnisstand ist nur noch die Frage, ob Trump von der Kooperation seiner Mitarbeiter mit Russland gewusst beziehungsweise sie angeordnet hat. Die Manipulation des Wahlkampfs zeigt beispielhaft, wo die tatsächliche Stärke Russlands liegt: in Cyberangriffen sowie der hybriden und asymmetrischen Kriegführung. Deren Erfolg ist jedoch abhängig von nütz­lichen Idioten, die bereitwillig fake news glauben, und rechten Verbündeten, die mit Putins Hilfe ihre eigenen Interessen verfolgen. Russische Interven­tionen können nur eine ohnehin vorhandene gesellschaftliche Strömung stärken. Kein US-Bürger war gezwungen, den nicht sonderlich skandalösen geleakten E-Mails der Demokraten ­Beachtung zu schenken.

Trump gibt ein gutes Feindbild ab, doch er ist nur ein Symptom der Krise der Demokratie, nicht deren Ursache. Es ist nicht seine Schuld, dass fast alle konservativen, liberalen, sozialdemokratischen und linkssozialdemokratischen Parteien Europas sich als konsequent unfähig und oft auch unwillig erweisen, der Offensive der populistischen und extremen Rechten etwas entgegenzusetzen, und ihnen eine Kuschelpolitik mit Autokraten als öko­nomisch notwendig, wenn nicht gar als moralische Pflicht gilt. Eine Erhöhung der Militärausgaben hilft nicht weiter, wenn man den Feinden der Demokratie die Tore längst geöffnet hat.