Der Trend zur Landflucht wird durch soziale Ungleichheit verstärkt

Stadt, Land, Flucht

Die meisten Menschen können sich nicht aussuchen, wo sie leben. Die Ungleichheit wächst. Auch jene zwischen den Regionen Deutschlands.

Die Großstadt funkelt nachts den Himmel an – sagen die einen. Lichtverschmutzung – sagen die anderen. Recht haben beide. Die Lichter Berlins, Frankfurts, Münchens und Hamburgs spenden all jenen Hoffnung, denen pro­vinzielle Enge, dörfliche Ignoranz oder kleinstädtische Dummheit ein Leben nach eigenem Gusto verwehren. Mit wirtschaftlich verheerenden Folgen hier, lebensbedrohlichem Furor dort. Die großen Städte bieten Schutz, Freiräume, Großzügigkeit. Zugleich erschlagen sie mit Lärm, mit Dreck und Baustellen, mit Tempo und grellem Licht.

Dass sich von der wachsenden Sehnsucht nach Dunkelheit profitieren lässt, beweist die Hundert-Seelen-Gemeinde Gülpe im Havelland. Tagsüber beobachten dort Studenten und Wissenschaftler der Universität Potsdam Vögel. Und auch nachts wendet sich der Blick gen Himmel, denn dies ist der erste deutsche Sternenpark, ein »Internatio­nal Dark Sky Reserve«, »wo Lichtverschmutzung vermindert und nächtliche Dunkelheit als wichtige bildende, kul­turelle, landschaftliche und natürliche Ressource erachtet wird«, wie es auf ­Wikipedia heißt. Bei der letzten Bundestagswahl gaben neun von 44 teilnehmenden Gülpern ihre Stimme dem Versicherungsmakler Michael Nehls von der AfD. Der wäre gern Fallschirm­jäger bei der NVA geworden, leugnet den Klimawandel und fordert schlicht: »Deutschland den Deutschen«.

Die Biegsamen, Flexiblen, sich selbst Optimierenden und jene, die arbeiten wie moderne Sklaven, begegnen einander auf den Autobahnen. Sonst nicht.

Das Leben auf dem Land ist beschwerlich, die Wege sind weit. Fernab der ­Digitalisierung der Welt klaffen großen Löcher in Straßen und Funknetzen. Frauen, junge Leute, Gebildete fliehen in die Städte. Aber die Luft ist klar, die Mieten sind niedrig, die Nächte still. Seit ein paar Jahren verstärkt sich der ­Gegentrend zur Landflucht, treiben Mietensteigerungen, Sehnsucht nach Übersicht und Ruhe wieder mehr ­Menschen aus Berlin, München oder Hamburg hinaus auf das Land. Sie retten Höfe und Parks, schaffen Kulturorte. In entlegeneren Gegenden schürte auch die Ankunft schutzsuchender Geflüch­teter Hoffnungen – auf das Überleben von Schulen, Kindergärten, Sportver­einen, Kleinbetrieben. Auf die Zukunft. Im Brandenburgischen Heinersdorf, unweit der polnischen Grenze, sind von den zeitweilig 180 Asylsuchenden immerhin sechs Familien geblieben. Doch den aus Albanien und Afghanistan kommenden neuen Dorfbewohnern droht die Abschiebung. Im reicheren Süden Deutschlands, bei Vollbeschäftigung und Lehrlingsmangel, verbündeten sich zuletzt auch Unternehmer mit Flüchtlingsinitiativen. So bekannte kürzlich Georg Mandl, der Besitzer der Bäckerei »Edelmühle« im grenznahen Passau, in der ARD-Sendung Monitor: »Wir haben ja gehofft, dass wir dann unseren Mangel an Lehrlingen oder an Mitarbeitern dadurch verbessern können.« Aber es kommt niemand mehr.

In den Metropolen dagegen wird es enger. Mit immer neuen Vorstädten ­wuchern sie ins sogenannte Umland ­hinein. So entstehen Pufferzonen ­zwischen Stadt und Land, Transitbereiche zwischen Kulturlandschaften und ­Metropolenkultur. Und dann sind da noch die Pendler aus den Randzonen der Republik, die mehr Zeit auf Autobahnen und in schlecht beheizten Monteurszimmern verbringen als mit ihren Kindern. Ganz zu schweigen von den Kolonnen polnischer Erntehelfer und Pflegekräfte, den Hilfsbauarbeitern aus dem Süden und Osten Europas, die illegal auf den Betonfußböden der Baustellen nächtigen.

 

Verschärfte Verhältnisse

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Jedoch wohnen fast 70 Prozent aller Deutschen in Orten, die weniger als 100 000 Einwohner haben. Städtische Ballungsräume finden sich eher im Westen als im Osten. Nach Zahlen des Bundesinstituts für Raumforschung verloren Landkreise in dünn besiedelten Gebieten zwischen 2010 und 2015 bis zu einem Fünftel ihrer Einwohner; ein Ende dieses Trends sei nicht absehbar.

Beide Phänomene, die Stadt- wie die Landflucht, Gentrifizierung und Mietsteigerungen auf der einen, strukturschwache Gegenden mit schwindenden Perspektiven bei rasant steigenden Bodenpreisen auf der anderen Seite bedingen und ergänzen einander. Die Bieg­samen, Flexiblen, sich selbst Optimierenden und jene, die arbeiten wie moderne Sklaven, begegnen einander auf den Autobahnen. Sonst nicht. Geradezu kontrafaktisch wirkt da ein aktuelles Grundsatzpapier der CSU: »Wir leben mehr als jede andere Nation von ­unserem ländlichen Raum – von den lebendigen Dorfgemeinschaften, von ­lebenswerten Kommunen und Gemeinden und einem innovativen Mittelstand mit zahlreichen Weltmarktführern in der Fläche.« Auf dem Land entstünde Zusammenhalt, würden Brauchtum und Traditionen bewahrt, dort schlage »das kulturelle Herz Deutschlands«.

Die Zahl der von gesellschaftlicher Solidarität abhängigen Menschen in Armut wächst. Sie haben andere Sorgen, egal wo sie wohnen. Ein Dach über dem Kopf, eine warme Mahlzeit, das fehlende Geld für die nächste Klassenfahrt. Im Zehnjahresvergleich der letzten Armutsberichte des Paritätischen Gesamtverbandes nähern sich Stadt und Land, Ost und West – mit den Ausnahmen Hamburg und Bayern – negativ an. Als »armutspolitische Problemregionen« auf lange Sicht werden auch das Ruhrgebiet und Berlin benannt. Als »völliger Ausreißer« in dieser Statistik gilt der Anstieg der Armutsquote bei Rentnern um 49 Prozent. Der Anteil der Kinder, die von Hartz IV leben, beträgt in Nordrhein-Westfalen mittlerweile 18,1 Prozent. Den Fachbegriff »Krise der politischen Repräsentation«, der sich auf die extrem niedrige Wahlbeteiligung von Armen bezieht, und die Warnung vor einer Zementierung der Verhältnisse enthält der Bericht jedoch nicht mehr. Sie wurden auf Anweisung des Bundeskanzleramtes entfernt.