Der Trend zur Landflucht wird durch soziale Ungleichheit verstärkt

Stadt, Land, Flucht

Seite 2 – Wachsende Ungleichheit

Auch der Bildungsbericht 2018 bestätigt: Die Spaltung hat sich vertieft. Fast ­jeder zehnte Jugendliche der Klassenstufe neun verfehlt den Mindeststandard beim Lesen. Parallel stieg der Anteil der Abiturienten auf 43 Prozent. Das weitere Absinken des Niveaus bei Grundschülern mag kaum verwundern. Allein in Ostdeutschland ist jeder zweite Lehrer älter als 50 Jahre, in Mecklenburg-Vorpommern fehlen über 900 Lehrer, bundesweit sind 2 000 Stellen nicht besetzt. Bis 2025, so die Prog­nose, werden es 35 000 sein. Quereinsteiger müssen schon jetzt helfen, um den Unterricht in manchen Fächern und Gegenden überhaupt aufrecht ­erhalten zu können. Brandenburg hat die Ausbildung von Kunstlehrern inzwischen ganz aufgegeben, und in den ländlichen und kleinstädtischen ­Sozialräumen gibt es vielerorts »nicht mehr ausreichend wohnortnahe Bildungsangebote«. Gemeint sind neben Schulen auch Clubs, soziale Einrichtungen, öffentliche Orte, die über die Vermittlung von Wissen hinaus als Übungsräume der Zivilgesellschaft für das Aushalten und Austragen von Konflikten fehlen.

Die Infrastruktur ist kaputtgespart worden. Die großstädtischen Feinstaubdebatten sind hier sehr weit weg. Wer auf dem Land lebt, braucht ein Auto, wer keines hat, hat Pech. Auch deshalb sind chronisch Kranke und ältere Menschen besonders hart vom Ärzte­mangel betroffen. Fahrende Händler beleben einmal wöchentlich verwaiste Dorfplätze, rollende Bibliotheksbusse und in Turnhallen improvisierte Kinos entstehen aus Eigeninitiative, während Zukunftsforscher noch von »Mobile ­Health«, »Smart Cities« und »Smart Countries« fabulieren.

Mit der Ungleichheit wächst die Dummheit. Wächst die Angst. Die Enthemmtheit nimmt überall zu, ob in der totalüberwachten Berliner Mitte oder im Schatten des Erzgebirges. ­Welchen Einfluss werden neu Zuziehende darauf nehmen können und wollen? Oder werden die Einwanderer nach den Gesetzen der Stammes­gesellschaft auch in Zukunft bestenfalls als Gäste geduldet? Viele Chancen sind in den vergangenen Jahren vertan worden. Schlimmer noch. ­Dadurch, dass einst Willkommene »weiterverteilt«, entwürdigt, als politische Verfügungsmasse benutzt und abgeschoben wurden, ist solidarisches ­Miteinander von Nachbarn, Mitschülern und Arbeitskollegen sabotiert und zerstört worden.

Die Studie »Gleichwertige Lebensverhältnisse in Bayern« beschreibt die verheerenden Folgen der neoliberalen Ideologie, welche nachhaltiges Wirtschaften verhindere. Nach dem Motto »Gleiche Chancen für ungleiche Kommunen« erinnere die stets mit Auflagen verbundene bayerische Strukturpolitik an die Griechenland-Strategie der Bundesregierung. »Den Staat in die Pflicht zu nehmen, anstatt weiter auf Privatisierung und Deregulierung zu setzen, ­zugleich jedoch nach innovativen und flexiblen Lösungen zu suchen, statt starre Strukturen auszubilden – das wäre ein neuer Ansatz in der Landesentwicklungsplanung«, bilanziert die Studie.

Bis solche Überlegungen eines Tages vielleicht doch noch gehört werden, öffnet das Gülper »Gasthaus zur Havel« nur noch auf Zuruf. Es wird um An­meldung gebeten, zwei Tage Frist. Aber am Abend des 27. Juli, wenn die Mitternachtsdämmerung endet, sind Gäste garantiert. Es lockt die längste Mondfinsternis des Jahrhunderts. Bei güns­tigem Wetter lässt sie sich auch vom Tempelhofer Feld in Berlin beobachten. Doch die meisten werden wohl auf Displays starren, während das Licht draußen schwindet.